Katzenhöhle
schwindelig beim Gedanken an die vielen Telefonate und Besuche, die sie erledigen musste.
In der Tiefgarage fand sie ohne Probleme einen Parkplatz, direkt vor dem Aufgang C zur Ladenstraße. Der Fahrbahnbelag quietschte schon lange nicht mehr so wie am Anfang, als alles noch ganz frisch gewesen war. Trotz ihrer Angst vor zu großen Menschenansammlungen hatte Lena die Neueröffnung der Arkaden hautnah miterleben müssen. Was für ein prickelndes Gefühl, in unbekanntem Terrain nach etwas Neuem zu suchen, sich treiben zu lassen, eingebettet in diese Flut aus funkelnden Lichtern, verführerischen Gerüchen, davon wehenden Stimmen und Körpern. Sie waren ihr ganz nah und kamen ihr doch nicht zu nah. Da musste Lena wieder an diesen Mann mit den weißen Haaren denken, ihren Mann. Wie unvorbereitet sie gewesen war, als er sie so plötzlich umarmt hatte. So hatte sie schon lange niemand mehr umarmt, nur ein paar schemenhafte Gestalten, an deren Namen und Gesichter sie sich kaum mehr erinnern konnte. Ein Körper am anderen, eng aneinander geschmiegt, für ein paar vergängliche Momente. Auch beim Tanzen war es anders, da dachte sie nie an Erotik oder gar Sex. Das Tanzen war, trotz der ständigen Schmerzen und dem ewigen Hunger nach Perfektion, gleichzeitig so voller Sinneslust und absoluter Konzentration, dass sie einen Tanzpartner nie als Mann wahrnahm. Er war nur Mittel zum Zweck, wenn sie ihn etwa als Pendant zu einer Drehung brauchte oder als Stütze, um sich fallen zu lassen. Aber die Berührung dieses Mannes – ihres Mannes – war ganz anders gewesen. Voller Sehnsucht und gleichzeitig voller Misstrauen. Lena kannte ihn aus dem Fernsehen, die Polizeibeamtin hätte ihn ihr gar nicht vorstellen brauchen. Seit einem Jahr war er Miras ständiger Begleiter: Mäzen, Lehrmeister, Liebhaber. Warum dann dieses Misstrauen? Er hatte sie doch für Mira gehalten. Wenn er sie nur noch ein wenig länger in seinen Armen gehalten hätte … Schnitt. Ein völlig unzulässiger Gedanke. Schnitt, jetzt sofort, nicht nur wegen Billy.
Sie ging in den ersten Laden. Lauter frische Farben: Hellgrün, zartes Rosa, leuchtendes Lila. Der Frühling lag in der Luft, auch wenn der Regen durch dichte Wolken aufs Glasdach trommelte. Welche Verheißung, welche Lust auf erste Sonnenstrahlen und fröhliches Vogelgezwitscher.
An der Kasse strahlte die Verkäuferin sie an, eine junge Studentin, die sich mit diesem Job ihre Finanzen aufbesserte, wie sie Lena einmal erzählt hatte.
»Diese Bluse hätt ich auch gern. Wunderschön, nicht? Wie immer mit Karte?«
Lena nickte. Gut, dass der Februar bald vorbei war. Auf ihrem Konto machte sich schon seit über zwei Wochen gähnende Leere breit. Das nächste Gehalt würde wieder fast vollständig für die Miesen des Vormonats draufgehen. Sie nahm die Tüte und verließ das Geschäft. Ob sie gleich zum Auto zurückgehen sollte? Dann käme sie erst gar nicht in Versuchung. Aber Julian erwartete sie nicht vor Mittag im Büro. Außerdem hatte sie ja noch wegen eines Gymnastikanzuges schauen wollen, der würde schon nicht die Welt kosten. Dann mal los!
Während sie die Rolltreppe hochfuhr, überlegte sie unentwegt. Zuerst musste sie im Bestattungsinstitut anrufen. Gut, dass die Polizei die Information von Miras Tod noch nicht an die Presse weitergegeben hatte. Und auch gut, dass Miras Leichnam erst noch obduziert werden musste. So blieb ihr selbst mehr Zeit zum Erledigen der Formalitäten. Ob sie es heute noch schaffen würde, in den Wald zu gehen? Sie hätte es dringend nötig, denn dazu war sie schon seit langem nicht mehr gekommen. Genau gesagt, seit Mira auf einmal vor ihrer Tür gestanden hatte, mit zwei Koffern neben sich. Dass sie sich für unbestimmte Zeit bei ihr einnisten würde, hatte Lena gleich gesehen. Dann hatte Mira sie mit Beschlag belegt, so wie früher. Wieder hatte Lena sich wie ein halber Mensch gefühlt. Aber im Grunde genommen war sie das ja auch …
Es gab Gymnastikanzüge in Schwarz, Weiß und Hellblau. Schwarze hatte sie wirklich genug, weiße auch – also nahm sie den hellblauen. Der weiße da mit den langen Ärmeln war allerdings auch wunderschön. Sie probierte ihn an. Er passte wie angegossen. Sie schaute aufs Preisschild, wie erwartet war er ziemlich teuer. Trotzdem nahm sie auch den mit zur Kasse. Als sie zahlte, dachte sie wieder an das Poltern.
Es kam ihr so vor, als hätte sie das seit dem letzten Abend immer wieder gehört, unablässig und ohne Gnade. Fast die ganze Nacht war
Weitere Kostenlose Bücher