Katzenhöhle
war im Inselhotel ›Sorat‹ abgestiegen. Sie wollte sich bei ihm entschuldigen, denn sie wusste immer noch nicht, warum sie ihm die blutüberströmte Leiche seiner Lebensgefährtin präsentiert hatte.
Sie bog in die Badstraße ein. Das war ein kleiner Umweg, aber sie liebte die schmale Uferstraße entlang der Donau mit Blick auf die gegenüberliegende Altstadt. Vor weniger als einem Jahr war diese Straße Schauplatz eines Aufsehen erregenden Mordfalles gewesen. Lilian fuhr an dem hellblauen Jugendstilhaus vorbei, dem damaligen Ort des Verbrechens. Zu gut erinnerte sie sich an diesen Fall. Selten hatte sie so geschwitzt – nicht nur, weil es ein fast unerträglich heißer Mai gewesen war. Auch deshalb, weil Davids Schwester als Mordverdächtige ins Zentrum der Ermittlungen geraten war. Eine harte Belastungsprobe für Lilians Beziehung zu David, den sie aus ihrer Zeit als Jurastudentin kannte und damals zufällig wieder getroffen hatte. Wobei ›Beziehung‹ nicht das richtige Wort für dieses unentwegte Ringen um Nähe und Ferne war. Ob sie nächstes Jahr wieder das gleiche denken würde, wenn sie hier entlang fuhr? Ob sich auch bis dahin noch nichts zwischen ihnen entwickelt hätte? Ach, zum Teufel.
Heute war Davids vierzigster Geburtstag. Sie hatte ihn noch nicht angerufen, um ihm zu gratulieren. Aber sie würde ihn ohnehin am Abend sehen. Vielleicht könnte sie sich ja auch davor drücken, von wegen neuer Fall und so. Er war an ihre unvorhergesehenen Einsätze gewöhnt. Und sie hatte so gar keine Lust auf eine allzu fröhliche Geburtstagsgesellschaft, bei der sie kaum jemanden kannte und … Lilian trat auf die Bremse. So abrupt, dass sie selbst nach vorne fiel. Verdammt – die Fußgängerin da hatte sie glatt übersehen, trotz des auffallenden Mantels mit Zebramuster. Betreten guckte Lilian die blonde Frau an, die sie schon einmal gesehen zu haben glaubte, erntete aber nur einen noch finstereren Blick und registrierte herabgezogene Mundwinkel. Aber das störte die Kriminalistin nicht. Denn gerade war ihr ein Gedanke gekommen, ein sehr wichtiger sogar. Vielleicht war genau das die Erklärung für Davids seltsames Verhalten, daran hatte sie bisher noch gar nicht gedacht. Vierzig Jahre: Mitte des Lebens, Lebensmitte, Lebenskrise. Deshalb war also noch nichts passiert! Es lag gar nicht an ihr und an der unsichtbaren Barriere, in die aufzubauen sie irrsinnig viel Energie steckte. Manchmal dachte sie, dass sie und David – wenn sie selbst nur halb so viel Kraft auf ein gewisses Maß an Ehrlichkeit und Gelassenheit verwendet hätte – vielleicht schon auf mehr als auf die paar Abendessen zurückblicken könnten, die meist in Disharmonie geendet hatten. Vierzig Jahre – steckte David etwa gerade in seiner zweiten Pubertät und war auf der Suche nach dem Sinn des Lebens? Was für ein tröstlicher Gedanke.
Lilian erwischte den letzten freien Parkplatz vor dem Hotel. An der Rezeption fragte sie nach Cedric Ormond. Die Empfangsdame schickte sie ins Restaurant Brandner. Der Weg dorthin erinnerte Lilian an einen Gang unter Deck auf einem Luxusschiff: Holzböden, Bullaugen in den Türen, stilvolle Einfachheit. Im Frühstückssaal waren sämtliche Lampen an, und auf jedem Tisch brannten eine oder zwei Kerzen, doch sie erzeugten nur eine diffuse Helligkeit. Auch die fast bis zur Decke reichenden Fenster und die um ein Eck angeordnete Glasfront schafften es nicht, mehr als nur spärliches Tageslicht von draußen hereinzulassen. Wieder lastete ein undurchdringlicher Hochnebel auf der Stadt. Feuchtigkeit und Trübheit krochen durch Wände und Gemüter. Lilian hasste dieses Wetter. Ihre Füße fühlten sich noch kälter an als sonst, ihre Stimmung war gedrückt, seit fast vier Wochen hatte sie keine Sonne mehr gesehen. Wenn es nicht nieselte, war es nebelig. Und wenn kein Nebel herrschte, gab es Schneeregen. Alles grau, schmutzig weiß, ungesund fahl. Lilian sehnte sich nach sattem Grün, knalligem Rot und lautem Gelb. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Auch die Erinnerung an die Obduktion von heute Morgen und die Aussicht auf die vielen fremden, freudestrahlenden Gesichter am Abend verhalfen ihr zu keiner besseren Laune.
Nur der weißhaarige Mann fernab von den übrigen Hotelgästen tat das. Völlig vertieft in eine Zeitung saß er an seinem Tisch, die Beine bequem übereinander geschlagen. Eine Lesebrille verlieh ihm eine noch intellektuellere Note, als Lilian es vom Vorabend in Erinnerung behalten hatte.
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