Katzensprung
zusammen das St. Anna Gymnasium besucht hatten,
waren Tülay und Olga beste Freundinnen. Während Olga zur Polizeischule gegangen
war und ihre langwierige Laufbahn zur Kripobeamtin eingeschlagen hatte, hatte
Tülay Friseurin gelernt und nach der Lehre auf Drängen ihrer Eltern einen
Türken aus der entfernten Verwandtschaft geheiratet. Sie half ihm in seinem
Imbiss, wurde nicht schwanger und ließ sich nach achtjähriger Ehe wieder
scheiden, wegen mangelnder Liebe auf beiden Seiten, wie sie oft betonte.
Zusammen mit Olga hatte sie eine große Wohnung am Hombüchel bezogen
und sich an der Bergischen Universität für Sonderpädagogik eingeschrieben.
Sie verdiente sich ihr Studium als Hausfriseuse und Putzhilfe, unter
anderem bei Olga, die Kochen und Putzen hasste und froh war, dass sie sich mit
einem Teil ihres Kommissarinnengehalts von dieser Fron freikaufen und Tülay
einen Job verschaffen konnte.
Auf dem Weg in die Viertelbar in der Luisenstraße erzählte Tülay von
ihrem neuen Putzjob in Unterbarmen bei dem Lehrerehepaar Hans und Ulrike Henseler,
das keine eigenen, aber zwei Pflegekinder hatte. Ein bettnässendes fünfjähriges
Mädchen namens Lilli, das vom Jugendamt aus einer gewalttätigen Familie
herausgeholt worden war, und den siebenjährigen Petar, ein russischstämmiges
Kind mit Fetalem Alkoholsyndrom.
»Vater kurz nach der Geburt am Suff gestorben, Mutter seit Jahren
schwer abhängig«, sagte Tülay. »Der kleine Petar ist vor einem knappen Jahr als
Pflegekind zu Hans und Ulrike gekommen. Er ist geistig behindert und kommt
jetzt in die Förderschule. Seit der Geburt wurde er hauptsächlich von dem zehn
Jahre älteren Bruder versorgt, bevor sie ihn aus der Familie genommen haben.
Der Bruder holt ihn ein paarmal in der Woche ab und geht mit ihm raus, da
fiebert der Kleine richtig drauf hin. Die Mutter soll früher in Russland
Tänzerin gewesen sein, Bolschoi-Theater, davon erzählt der Kleine manchmal.
Ulrike sagt, er kommt jede Nacht zu ihnen ins Bett, er kennt das von seinem
Bruder. Er braucht die Nähe, er kann nicht allein sein. Wenn man solche Kinder
sieht, will man sich ja über gar nichts mehr beklagen.«
»Am wenigsten über Männer«, sagte Olga und stieß die Kneipentür auf.
Es war schon eine Menge los. Sie überlegte, ob sie Max anrufen sollte, ließ es
dann aber, weil er Kinderdienst hatte und sie von den quäkenden Monstern am
liebsten gar nichts mitbekommen wollte.
»Man muss sich ja nicht immer so fixieren«, sagte sie zu Tülay und
sah sich unternehmungslustig um, »wer weiß, was hier noch so auf der Szene
rumläuft.«
***
Hi, Clärchen, bei uns ist die große Scheiße.
Mein Daddy musste zur Polizei, weil eine Frau tot in der Wupper lag, die seine
Freundin gewesen sein soll. Sie hatte seinen Namen auf den Bauch tätowiert. Die
Kripo war auch bei uns zu Hause. Die Frau hat bei Mama angerufen, bevor sie
umgebracht wurde. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Mama heult
und schreit nur noch, Papa streitet alles ab. Er ist tatverdächtig, so nennt
sich das, er hat Angst, dass er jeden Moment verhaftet wird. Es ist alles so
obergrausam, so schlimm. Ich möchte abhauen und zu dir nach Frankreich kommen.
Igor kann ich es gar nicht sagen, er
will so was nicht hören, schlechte Energie, sagt er, mit so was soll man sich
gar nicht belasten. Atme, sagt er, atme und denk nicht an den Mist. Er will den
Kopf klar behalten, er sagt: Nimm deinen Weg, alles andere ist egal, Schrott,
Ballast, den wir nicht brauchen.
Er hatte heute wieder seinen kleinen
Bruder Petar mit, der ist so süß. Ich schneide ihm manchmal Gesichter, da lacht
er ganz laut. Igor liebt seinen Bruder, er ist sein Ein und Alles.
Er kommt aus Russland, aus Moskau, aber
er ist an der Wolga aufgewachsen, bei seiner Oma in einem kleinen Dorf mit
Holzhäusern. Im Winter ist alles weiß bis zum Horizont, minus zwanzig Grad, der
Fluss ist zugefroren, und wenn die Sonne untergeht, leuchtet der Himmel lila
und purpur. Igor sagt, das sei schöner als das Paradies.
Er ist so süß, Clärchen, er ist schön
und ganz rein.
Aber irgendwas ist anders, er spricht
nur noch wenig und ist irgendwie traurig.
Er sieht aus wie der Erzengel Gabriel.
Ich habe ihn lieb und dich auch. Und Petar.
Ich habe Angst.
Love u
hdggdl
Luna
***
Olga, Lepple und die Spurensicherung durchsuchten die Wohnung
Ramona Wenklers an der Handelsstraße in Wichlinghausen, die sie erst vor einem
halben Jahr bezogen hatte. Den Inhalt des Schreibtisches,
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