Katzensprung
darunter ein
handgeschriebenes Tagebuch, Laptop und Datenträger, packten sie in Kisten. An
der Pinnwand über dem Schreibtisch hingen einige Zettel mit Telefonnummern,
außerdem ein ausgedrucktes, unscharfes Foto, das im Juni aufgenommen war und
Emilio und Ramona zerzaust im Bett zeigte. Auf dem Schreibtisch lag eine vier
Wochen alte Rechnung für ein iPhone.
Die Kommissare waren mit der einzigen nahen Verwandten, Ramonas
sechs Jahre älterer Schwester Gisela Reiners, verabredet, die aus Saarbrücken
kam. Die farblose Frau mit ergrauender Dauerwelle gab zu Protokoll, dass sich
der Kontakt zu ihrer Schwester auf ein jährliches Telefonat zu Weihnachten
beschränkt habe und sie im Prinzip nichts von ihr wisse. Ramona habe über ihre
Arbeitssituation gesprochen und sich nach den Kindern erkundigt, es sei alles
sehr an der Oberfläche geblieben.
Vor etwa zwei Jahren habe Ramona ihr einmal von einem gewissen
Emilio erzählt, mit dem sie zusammen sei. Sie habe eigentlich immer so getan,
als lägen ihr zahlreiche Liebhaber zu Füßen und als sei sie vollkommen
glücklich, vor allem seit dem Wechsel in den Schuldienst. Sie hätten nie einen
besonderen Draht zueinander gehabt, das rühre von der Kindheit her.
»Sie wollte immer was Besonderes sein, sie war ja auch die Hübschere
von uns beiden«, sagte Gisela Reiners. »Mein Vater hat sie sehr bevorzugt.
Später hat sie behauptet, er habe sie missbraucht, ich weiß nicht, ob das
stimmt. Sie hat es unserer Mutter im Streit an den Kopf geworfen, da war Vater
schon tot. Unsere Mutter ist auch vor acht Jahren gestorben.«
»Würden Sie Ihrem Vater einen Missbrauch zutrauen?«
»Ich weiß nicht, ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Bei uns
zu Hause hat Alkohol eine große Rolle gespielt, deshalb bin ich auch sehr früh
weggegangen. Ich war sechzehn, Ramona zehn. Sie war sehr niedlich mit ihren
grünen Augen und dem schwarzen Haar, sie war eitel und schmückte sich gerne,
machte sich besondere Frisuren und so. Meinem Vater gefiel das. Wenn er in
bierseliger Stimmung war, nahm er sie auf den Schoß und lobte sie, sie sei
seine kleine Prinzessin und solche Sachen, ich war oft sehr eifersüchtig. Ich
war ja genau das Gegenteil, zu mir hat er Kartoffelkönigin gesagt, weil ich so
gern Kartoffeln mochte. Und wohl auch, weil ich ihm immer schnell vom Schoß
gesprungen bin.«
»Und sie war die Lolita?«
Gisela Reiners nickte, sie sah an sich hinunter und zuckte mit den
Schultern.
»Unter Alkoholeinfluss wurde mein Vater übergriffig – ich mochte es
nicht und habe immer das Weite gesucht. Aber Ramona tat sich damit hervor,
Papas Liebling zu sein, als wäre sie etwas Besonderes, Auserwähltes, nicht so
hässlich wie ich. Ich habe sie unendlich gehasst dafür.«
»Das ist ein Missbrauchsmuster«, sagte Olga, »das Hofieren, wie eine
Erwachsene behandeln, Geschenke, Gefühle vorgaukeln, eine kleine Prinzessin aus
dem Kind machen.«
»Es ist so abscheulich.« Gisela Reiners Mund bebte, und sie fing an
zu weinen. »Ich weiß gar nicht, wie ich damit fertigwerden soll. Ich habe all
das immer verdrängt und hatte mit meiner Herkunftsfamilie ganz abgeschlossen.
Und jetzt holt es mich auf diese Weise ein. Mein Gott, trotz allem war sie
meine Schwester, und jetzt ist sie tot. Es ist so grauenhaft. Wer kann das
gewesen sein? Haben Sie schon Vermutungen?«
»Nein«, sagte Olga, »die Ermittlungen sind noch im Gange. Bitte
hinterlassen Sie bei meinen Kollegen, wie wir Sie erreichen können. Die
persönlichen Unterlagen Ihrer Schwester stellen wir Ihnen zu, wenn wir sie
ausgewertet haben.«
Die Lagebesprechung bei Kriminaloberrat Dr. Joachim Fischbein
fand in großer Runde statt, die Todesermittlungen im Fall Wenkler standen oben
auf der Tagesordnung.
»Langsam müssten wir ja mal was haben, eine Woche nach der Tat«,
eröffnete Fischbein, der kurz vor der Pensionierung stand und als strenger,
aber gütiger Chef mit manchmal eigenwilligem Humor galt.
»Was ist mit diesem Kneipenwirt, wie dringend ist der Tatverdacht?
Die Staatsanwältin steht mir auf den Füßen, ausgerechnet die Braun hat den
Fall.«
Fischbein war auch bekannt dafür, dass er sich gern mit
Staatsanwälten duellierte, unter anderem über die Frage, wann eine Ermittlung
als abgeschlossen zu betrachten wäre.
»Ich schlage vor, wir tragen die Ergebnisse zusammen, damit das Bild
klarer wird«, sagte Stefan Bauer, dessen großes Problem darin bestand, dass er,
obwohl er auf die fünfzig zuging, wegen seines
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