Katzensprung
gewesen und hatte sie nicht bedrängt.
Beim Frühstück hatte er viel von sich gesprochen, sie hatte
irgendwann nicht mehr zuhören können und ihn plötzlich wie durch ein
umgedrehtes Fernglas gesehen, fremd und klein. Der gleiche runde dunkle Kopf
wie Emilio, die südländischen Augen.
Ein Schrecken hatte sie durchfahren, nein, nicht schon wieder.
Hakan hatte sie am Sonntagabend zu Hause abgesetzt; sie hatte ihn
nicht gebeten, noch mitzukommen, war einsam in ihr Bett gegangen und nach
schlechtem Schlaf am Montagmorgen mit Migräne aufgewacht.
Sie durchforstete das Internet nach Stellenangeboten. In mehreren Boutiquen
wurde Verkaufspersonal gesucht, und sie begann, Bewerbungsunterlagen
zusammenzustellen und ein Anschreiben zu entwerfen.
Gegen drei surrte das Handy, das Display blinkte: »Luna ruft an.«
Trudi stürzte an das Gerät.
»Schätzchen, wie geht es dir? Oma sagte, du bist erkältet?«
»Alles beschissen«, schniefte es am anderen Ende, »ich brauche eine
Entschuldigung für die Schule. Kannst du sie hinschicken?«
»Aber klar, mach ich sofort. Ich möchte dich sehen, Kind, kann ich
nicht mal vorbeikommen? Nur kurz?«
»Ja, komm, mir geht’s scheiße. Diese Frau Popodingsda war da, die
Tante von der Kripo.«
»Was wollte sie denn? Sie hat hier auch angerufen.«
Trudi hörte Luna laut weinen.
»Ich komme, Kind«, rief sie, »in einer halben Stunde bin ich da.«
Mit fliegenden Händen schrieb sie eine Entschuldigung, lief zu ihrem
Toyota und bretterte zuerst an der Gesamtschule Barmen vorbei, wo sie die
Entschuldigung in den Briefkasten warf, dann weiter durch die Talachse nach
Vohwinkel.
Trudis Mutter stand verzweifelt in der Haustür und hatte Lunas
Jacke in der Hand, als Trudi ankam. Luna war verschwunden, sie hatte um Viertel
nach drei einen Anruf bekommen, war trotz hohem Fieber sofort aufgesprungen und
im Trainingsanzug fortgelaufen.
»Ich bin hinterher, aber sie rennt ja wie der Blitz. Hat noch nicht
mal was angezogen. Sie käme gleich wieder, hat sie gerufen.«
Oma Ursel weihte Trudi in Lunas Verbindung zu Igor ein und dass am
Vormittag die Kommissarin da gewesen sei, um sich nach ihm zu erkundigen. Luna
mache sich Vorwürfe, zu viel gesagt und ihren Freund womöglich ans Messer
geliefert zu haben.
»Weshalb denn?«, fragte Trudi entgeistert. »Warum könnte sie ihn ans
Messer liefern?«
»Luna meinte, es könne was mit dieser schrecklichen Sache zu tun
haben, in die Emilio verwickelt ist, mit dem Tod dieser Frau. Ihr Freund habe
sich seit der Zeit, als das passierte, verändert, das hat sie auch der Kripo
erzählt.«
In Trudis rechter Stirn begann es zu pochen, eine neue Attacke
kündigte sich an.
Sie suchte in ihrer Tasche nach den Migränetabletten und fand sie
nicht. Ihre Mutter gab ihr zwei Aspirin, die sie hastig schluckte. Welche
Grausamkeiten warteten noch auf sie, und was sollte das Kind noch alles
ertragen?
Luna kam gegen vier zurück. Sie war erschöpft und feindselig und
antwortete auf keine Frage. Als ihre Mutter sie auf das Sofa bettete, brach sie
in Tränen aus und weinte eine Weile haltlos mit dem Kopf in Trudis Schoß, dann
setzte sie sich auf. Die Augen waren rot und verquollen, der geschorene Kopf
pendelte auf ihrem dünnen Hälschen.
»Bitte fragt mich nicht, wo ich war«, flüsterte sie. »Ich werde euch
nichts sagen. Ich war weg und bin jetzt wieder da. Ich will nicht, dass ihr das
der Kripo erzählt, versprecht mir das. Und mehr kriegt ihr nicht aus mir raus,
versucht es gar nicht erst.«
Luna ließ sich zurückfallen und schloss die Augen, Trudi legte ihr
die Hand auf die Stirn. Sie fieberte und hatte Schüttelfrost. Trudi machte
ihrer Tochter Wadenwickel, gab ihr homöopathische Kügelchen und streichelte ihr
den Rücken, bis sie wegdämmerte. Luna murmelte und schreckte immer wieder hoch,
bevor sie in Tiefschlaf fiel.
***
Fitzer hatte sich gegen halb vier gemeldet. Der Zeuge hatte Igor
relativ zweifelsfrei identifiziert. Stefan Bauer rief den Untersuchungsrichter
an, dann machte er sich zusammen mit Olga auf den Weg in die Gronaustraße und
orderte einen Streifenwagen, der sich unauffällig in der Nähe von Henselers
Wohnung postierte.
Igor war noch nicht da, als sie eintrafen. Ulrike und Hans Henseler
waren beunruhigt – normalerweise kam er pünktlich um fünf vor vier, man konnte
die Uhr danach stellen.
Olga blinzelte Bauer nervös an. Womöglich waren sie zu spät.
»Weiß er, dass wir uns nach ihm erkundigt haben?«, fragte sie
Ulrike, die
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