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Katzensprung

Katzensprung

Titel: Katzensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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den Lippen, als Olga ihm
Handschellen anlegte. Es war ihm nicht anzumerken, dass er gerade vom Tod
seiner Mutter erfahren hatte. Sie nahmen ihn mit zu seiner Wohnung in der
Hermannstraße, wo schon die Spurensicherung wartete, und ließen sich die Tür
aufschließen.
    In den umliegenden Fenstern bewegten sich die Gardinen. Eine
Nachbarin öffnete ihr Fenster, legte sich ein Kissen aufs Fensterbrett und
beobachtete mit unverhohlener Sensationslust das Geschehen.
    Die Wohnung war sauber und aufgeräumt, auf dem Küchentisch stand ein
halb ausgetrunkenes Glas Orangensaft. Olga nahm dem Jungen die Handschellen ab,
damit er seine persönlichen Sachen zusammenpacken konnte. Dann brachten sie ihn
ins Präsidium, während die Spurensicherung begann, die Wohnung zu durchsuchen
und Kleidungsstücke von Igor sicherzustellen.
    Der Strafverteidiger Dr. Fritz Schwalbe kam gegen sechs. Er schob
einen runden Kugelbauch und eine Wolke von Männerparfum vor sich her, war fast
kahl und trug einen eleganten Anzug. Er machte zunächst einen täppischen
Eindruck, der sich aber nach wenigen präzisen Fragen mit einer angenehmen
Stimme vollkommen auflöste. Er ließ sich von Igor Prozessvollmachten
unterschreiben und kündigte an, Akteneinsicht zu beantragen. Außerdem riet er
seinem Mandanten, sich nicht zur Sache einzulassen. Er werde am nächsten Abend
zum Haftprüfungstermin wiederkommen, bis dahin habe er sich ein Bild von der
Lage machen können.
    Der Moment, als Igor in die Zelle geführt wurde, war einer jener, in
denen Olga sich wünschte, nicht diesen Beruf ergriffen zu haben. Alle Spannung
war aus ihm gewichen, in seinem Blick, mit dem er sie beim Hinausgehen
streifte, lag ein Abgrund von Trostlosigkeit.
    Er lächelt, streicht die Haarsträhnen aus dem Gesicht, er läuft
nicht, er schwebt über den Gefängnisflur, ein Model auf dem Catwalk. Er ist
nicht schnell, trotzdem kann sie kaum folgen, ihre Füße sind wie Blei. Manchmal
dreht er sich um, als wollte er sie locken oder sehen, ob sie noch folgt. Er
wird schneller, ihre Beine schwerer.
    Ich schaff dich, ich krieg dich, ich bin Polizistin, und keine
schlechte, ich hab dich ja schon mal gekriegt.
    Er ist jetzt so schnell, als würde er von etwas fortgesogen, läuft
hinaus auf den Gefängnishof. Halt, brüllt sie, halt, stehen bleiben, Polizei!
Sie fingert nach dem Halfter unter der Jacke, zieht die Pistole, schießt in die
Luft, einmal, zweimal.
    Er zuckt noch nicht mal, läuft weiter auf die mit Stacheldraht
bewehrte Mauer zu.
    Halt!
    Olga will schreien, aber es kommt kein Laut. Sie rennt, um ihn zu
fassen, rennt um ihr Leben.
    Als sie fast bei ihm ist, setzt er mit einem mächtigen Katzensprung
über die Mauer, dabei teilt er den Stacheldraht mit den Armen wie Moses das
Meer. Sie sieht nicht, wohin er springt. Hoch oben Schreie, Möwenschreie. Sie
nimmt Anlauf und will hinterher, versucht es noch mal und noch mal die Mauer
hinauf, die sich immer mehr nach vorn neigt. Olga fällt zurück, keucht, flucht,
schwitzt.
    Sie fuhr hoch, hatte ihre Bettdecke weggestrampelt und auf Max
geworfen, der sich zu ihr drehte und stöhnte.
    »Er ist gesprungen«, flüsterte sie, »einfach über die hohe
Gefängnismauer.«
    »Wen meinst du?«
    »Mein Russe, er konnte fliegen.«
    »Wird Zeit, dass der Fall zu den Akten kommt«, murmelte Max und
guckte auf den Wecker. »Schlaf weiter. Wie soll der denn fliegen können, der
sitzt doch in Gewahrsam.«
    ***
    Emilio war am Dienstag schon früh wach; die Sorgen krochen ihm
über die Bettdecke. Die Kneipe lief schlecht, und wenn Uwe ihn nicht
angetrieben hätte, hätte er sie gar nicht mehr aufgemacht. Die Trinkfreudigkeit
der Gäste hatte ohne den Schwung und die gute Laune, die Emilio früher
verbreitet hatte, nachgelassen, und sie schlossen das Lokal manchmal schon
gegen halb zwölf. Zu dieser Stunde war es in guten Zeiten erst richtig
losgegangen. Außerdem hing das Damoklesschwert der Steuerfahndung über ihm. Er
hatte einen Termin mit einem Fachanwalt gemacht und mindestens die Hälfte des
Kofferinhalts, den er in einem Bankschließfach deponiert hatte, innerlich
abgeschrieben. Der Anwalt hatte außerdem bedenklich den Kopf gewiegt, als
Emilio ihn fragte, ob er mit einer hohen Strafe zu rechnen habe.
    Am Freitagmorgen hatte er Trudi angerufen und gefragt, ob sie nicht
mal essen gehen und miteinander reden sollten, aber sie hatte ihn kühl abfahren
lassen. Sie könne nicht, sie fahre mit einem guten Freund für zwei Tage nach
Holland. Wer das

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