Katzensprung
den Kopf schüttelte.
»Von mir nicht, er hat ja auch kein Handy, ich hätte ihn gar nicht
erreichen können.«
Petar saß auf Hans Henselers Schoß am Küchentisch und schob Autos
hin und her. Er war ein zarter Junge mit kleinem Kopf, einem flachen,
engelhaften Gesicht und mongolischen Lidfalten, der wirkte wie ein
Dreijähriger.
Der Pflegevater schilderte seinen Eindruck von Igor und verneinte
Bauers Frage, ob er den Jungen als aggressiv empfinde.
»Er ist überdurchschnittlich kontrolliert, er ist sehr abgedichtet,
aber aggressiv ist er nicht. Ich glaube, dazu ist er zu intelligent. Mein
Eindruck ist, dass er sich rettet, indem er sich über alles erhebt, das Leiden
am Leben, das Unglück, die Sache mit Petar und der Mutter, dass er mit
Willenskraft und Zen-Übungen seine schwierige Situation überwinden will.«
»Die kleine Sassi sagt: ›No limit, pur, klar und stark.‹«
»Ja, das ist er auch in gewisser Weise. Ich würde es vielleicht
nicht so pathetisch formulieren. Er ist wirklich sehr stark«, sagte Hans
Henseler. »Mit welcher Sorge und Zuverlässigkeit er sich um den Bruder kümmert,
ist beeindruckend, da ist er offen und zärtlich, auch im Umgang mit dem
Mädchen. Er hat sie ja ein paarmal mitgebracht.«
Ulrike Henseler setzte sich mit an den Tisch. »Können Sie uns sagen,
was Sie ihm vorwerfen?«
»Er könnte in ein Tötungsdelikt verwickelt sein«, sagte Bauer, »es
geht um den Fall, bei dem zunächst der Vater von Luna unter Tatverdacht stand.«
Ulrike schlug die Hände vor das Gesicht. »Das wäre ja entsetzlich,
grauenhaft. Wie kommen Sie auf Igor?«
Olga gab knappe Hinweise auf das Tagebuch von Ramona Wenkler und
Lunas Aussage.
»Gehen Sie gut mit ihm um, bedenken Sie, was der Junge auf dem
Buckel hat.«
»Ja«, sagte Olga, »das tun wir. Wir sind verpflichtet, die
belastenden Fakten zu ermitteln, aber genauso das, was ihn entlasten könnte.«
Igor kam um zwanzig nach vier, erhitzt und nervös. Er entschuldigte
sich, die Schwebebahn sei unpünktlich gewesen.
Er war wirklich schön wie eine Statue und seine Ähnlichkeit mit
David Bowie frappierend. Er nahm Petar auf den Schoß, der sich an ihn
schmiegte. Igors blonde Haare hingen in Strähnen über sein Gesicht, und es war
nicht zu erkennen, ob er den Ausdruck wechselte, als Olga und Stefan Bauer sich
als Angehörige der Wuppertaler Kripo vorstellten.
Bauers Frage, ob er früher einmal das Jugendzentrum in Gräfrath
besucht und dort an einem Tanz- oder Theaterprojekt teilgenommen habe,
verneinte er.
»Wir können das herausfinden«, sagte Olga, »denken Sie noch einmal
nach. Vor etwa dreieinhalb Jahren.«
»Da war ich vierzehn«, sagte Igor mit einer hellen Stimme mit
weichem russischem Akzent, »da war meine Mutter schon krank. Ich habe mich
immer um meinen Bruder kümmern müssen.«
»Frau Henseler hat mir erzählt, dass Sie Parkour machen. Wie lange
betreiben Sie diesen Sport schon?«
»Seit gut einem Jahr.«
»Haben Sie davor auch einen Sport betrieben?«
»Ich habe getanzt, seitdem ich ein kleines Kind war, meine Eltern
waren Tänzer in Moskau.«
»Und tanzen Sie jetzt noch?«
Igor schüttelte den Kopf und sagte, als Olga ihn fragend ansah: »Ich
sehe keinen Sinn mehr darin.«
»Welchen Grund hatten Sie, mit dem Tanzen aufzuhören?«, bohrte Olga
nach, »und wann war das genau?«
»Sie sollten uns sagen, ob Sie Igor als Zeugen oder als
Beschuldigten vernehmen«, schaltete sich Hans Henseler ein. »Wenn er
beschuldigt wird, sollte er ohne Anwalt besser nichts mehr sagen.«
»Es gibt einen Anfangsverdacht«, sagte Bauer und ließ den Jungen
dabei nicht aus den Augen. Igor saß angespannt auf der Stuhlkante, die
Haarsträhnen über seinem Gesicht zitterten.
»Wir kennen einen guten Anwalt. Wenn du willst, rufe ich ihn an, Dr.
Fritz Schwalbe heißt er«, sagte Ulrike Henseler. Igor nickte.
»Wir ermitteln in einem Mordfall. Sagt Ihnen der Name Ramona Wenkler
etwas?«
Bauer sah den Jungen fest an, dessen Augen kurz flatterten und dann
wieder gleichmütig auf dem Bruder ruhten.
»Ich möchte dazu nichts mehr sagen.«
Ulrike Henseler kam zurück und sagte, der Anwalt könne in eineinhalb
Stunden im Präsidium sein. Dann nahm sie Olga zur Seite und flüsterte ihr zu,
der Junge wisse noch nicht, dass seine Mutter gestorben sei, und sie wollten es
ihm sagen.
»Wir warten draußen«, sagte Olga. »Passen Sie auf ihn auf, wir haben
überall Beamte postiert. Er soll keine Dummheiten versuchen.«
Igor war grau und kaute auf
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