Katzensprung
blickte
träumerisch aus dem Fenster und hauchte, es sei ein Verlobungsgeschenk. Dann
tänzelte sie hinaus und sagte in der Tür: »Ich bleibe hier bei Oma, ich komme
erst mal nicht nach Hause.«
Ihre Eltern sahen sie durch das Fenster die Herderstraße
hinuntersprinten, Emilio schnappte nach Luft.
»Verlobt – die hat sie doch nicht mehr alle. Und was meint sie mit
Methoden? Ist sie übergeschnappt? Was hat dieser Typ mit meinem kleinen Mädchen
gemacht? Sag was, Trudi, es muss etwas geschehen.«
Trudi unterdrückte einen Wutanfall. Der Alptraum hörte nicht auf,
und er machte einen auf hilflos. Sie presste die Fäuste ans Gesicht und rieb
mit den Fingerknöcheln die Wangen. Was sollten sie tun? Konnten sie es
verantworten, Luna einfach laufen zu lassen? Sie war doch noch ein Kind, sie
konnte noch nicht abschätzen, was sie tat. Man wusste doch auch gar nicht, was
dieser Igor für einer war. Vielleicht war sie blind vor Verliebtheit. Waren sie
nicht verpflichtet, die Kommissarin anzurufen, schon allein, um ihr Kind zu
schützen?
Emilio sprang auf und griff nach seinem Autoschlüssel. »Ich fahre
ihr nach.«
»Ich komme mit.«
Sie fuhren über die Kaiserstraße ins Vohwinkeler Zentrum. Kurz vor
der Bahnstraße sahen sie Luna auf dem Bürgersteig traben und nach rechts in
Richtung Bahnhof abbiegen. Sie parkten auf dem Bahnhofsvorplatz und folgten ihr
mit einigem Abstand.
Der Zug aus Köln war abfahrbereit. Luna rannte den Bahnsteig entlang
bis zum Ende, wartete, bis der anfahrende Zug vorbeigezischt war, federte mit
einem Satz auf den Bahndamm und sprang auf die Schienen. Trudi und Emilio
beobachteten vom Ende des Bahnsteiges aus gebannt, wie ihre Tochter das
Schienengewirr in eine Parkour-Arena verwandelte und eine grandiose Vorstellung
ablieferte. Sie balancierte, schnellte in elastischen Sprüngen von einem
Schienenstrang zum nächsten, überquerte Weichen, tänzelte vor und zurück über
die Holzschwellen und den groben Schotterbelag, als folge sie einer
Choreografie, sie wirbelte, sprang, trippelte, rannte. Unter ihrem Gleichmut,
der Trudi aufgesetzt erschien, lag Angespanntheit, aber auch ein Strahlen, das
sie nicht deuten konnte.
Sie ist Traceur, dachte Trudi. Wie gut sie ist, wie stark.
Eine seltsame Ruhe durchflutete sie.
Mein Gott! Was tat das Kind? Es konnte doch jeden Augenblick ein Zug
kommen!
Emilio löste sich aus der Verzauberung und begann zu winken und zu
rufen. Als Luna nicht hörte, geriet er außer sich und wollte hinter ihr her auf
die Gleise springen, da bog Luna nach links ab und verschwand in den Büschen,
die die Bahntrasse begrenzten.
Trudi und Emilio liefen zum Auto und kreuzten noch eine Weile durch
Vohwinkel, aber Luna blieb verschwunden. Emilio war bleich, am Ende seiner
Kräfte. Zum ersten Mal seit langer Zeit tat er Trudi leid, während sie in sich
selbst etwas erstarken fühlte.
Lunas sicherer Schritt, ihre Leichtigkeit und Grazie. Ihre
Selbstverständlichkeit.
Als sie in die Herderstraße zurückkamen, saß Luna am Tisch und aß
einen Joghurt. Emilio blaffte sie an, ehe Trudi sich einschalten konnte.
»Wir haben dich auf den Schienen gesehen – bist du wahnsinnig,
willst du unbedingt von einem Zug zermalmt werden?«
»Ich kenne den Fahrplan, ich hatte zehn Minuten Zeit, ich komme
unter keinen Zug. Was wolltet ihr eigentlich da, seid ihr mir etwa
nachgefahren?«
Ihr Ton wurde zickig, Emilio pumpte sich auf.
»Es ist strengstens verboten, wie du sicher weißt. Du bist ein unmündiges
Kind, wir sind für dich verantwortlich. Man wird uns zur Rechenschaft ziehen,
wenn man dich auf den Schienen erwischt.«
Luna atmete tief und gleichmäßig und sah durch ihn hindurch, ihre
Stimme war gelangweilt.
»Also, noch mal langsam zum Mitschreiben: Ich bin Traceur, meine
Grundlage ist eine Philosophie, ich weiß, was ich tue. Ich bin trainiert und
mental gut drauf, ich kann loslassen. Ich wette, ihr wisst gar nicht, wie sich
so was anfühlt.«
Sie stand auf, nahm ein schmales Buch mit dem Titel »Der Weg des
Zen« vom Küchenschrank und zog mit der Bemerkung, sie brauche jetzt ihre Ruhe,
die Tür zu ihrem Zimmer zu.
Emilio bebte, Trudi streckte ihm ihre Hand entgegen, die er wie ein
Ertrinkender ergriff.
***
Clärchen, Clärchen,
Igor hat sich heute nicht gemeldet, ich
glaube, dass sie ihn verhaftet haben. Er hat mich gestern angerufen, wir haben
uns getroffen, und ich habe ihm gesagt, dass die Polizei ihn sucht. Ich habe
ihn nicht gefragt, ob er was mit der Sache zu tun
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