Katzensprung
aber er rückte trotzdem von ihr fort und
wurde fremd, gehörte nicht mehr zu ihr, als wäre ein Band zerrissen. Die
Vorstellung, wieder mit ihm in den alten Ehegeleisen zu fahren, war
unerträglich, undenkbar. Sie hatte ihn abgewiesen, als er sich versöhnen wollte
und demütig fragte, ob er zurück in die Ottostraße kommen könne.
Und Hakan? Sie hatte seit dem Wochenende nichts mehr von ihm gehört
und bei den ganzen Turbulenzen auch kaum mehr an ihn gedacht, er erschien ihr
ähnlich fern wie Emilio.
Sie musste es allein schaffen, auf eigenen Beinen stehen. Vor allem
musste sie ihre Tochter unterstützen, ihr Kraft und Halt geben. Dass Luna in
diesen Schlamassel hineingeraten war, war schlimm genug, aber musste sie auch
noch mit Eltern gestraft sein, die in ihre eigenen Schwächen und Abhängigkeiten
verstrickt waren, statt ihrer Tochter beizustehen? Trudi sprang auf und lief in
der Küche auf und ab. Sie wollte etwas tun, wusste aber nicht, wie, sie fand
einfach keinen Ansatzpunkt.
***
Der Ortstermin fand am Donnerstagmorgen bei kühlem, regnerischem
Wetter statt. Anwalt Schwalbe trug Sportjacke und Baskenmütze, er hatte seinen
Schal um den Hals gewickelt, an seinen Füßen leuchteten rote Turnschuhe.
Igor führte den Suchtrupp durch Heckinghauser Hinterhöfe und Gärten,
teilweise ging der Weg über Zäune und quer durch das Gelände, was dem
schnaufenden Anwalt erhebliche Probleme bereitete. Der Junge war nicht sicher,
wo er die Tüte mit den Habseligkeiten Ramona Wenklers abgeworfen hatte, und
bezeichnete mehrere Stellen, aber die ausschwärmenden Polizisten kehrten
erfolglos zurück.
Die Staatsanwältin hatte Handschellen angeordnet, unter denen Igor
sichtlich litt. Er hatte Schweiß auf der Oberlippe und wippte unablässig mit
den Beinen.
Der Suchtrupp arbeitete sich langsam voran. Nachdem sie mit Igors
Hilfe den in Frage kommenden Bereich abgesteckt hatten, fuhren der Anwalt, Olga,
Bauer, Lepple und zwei Polizisten im Bus mit dem Häftling zum Elba-Gelände, um
die Tat vor Ort zu rekonstruieren.
Bauarbeiter waren dabei, Abrissbagger in Position zu bringen, da die
alten Hallen abgerissen werden und einem Neubau Platz machen sollten. Der
Tatort war noch abgesperrt.
Die Staatsanwältin hatte ihr schwarzes Sportcoupé an der
Moritzstraße geparkt, sie kam in hochhackigen Stiefeln auf den Polizeibus
zugestöckelt und mahnte zur Eile.
Flankiert von den beiden Polizisten zeigte Igor ihnen den Weg, auf
dem er mit Ramona Wenkler in den Hinterhof gelangt war, dann standen sie vor
der Mauer, dem mutmaßlichen Tatort.
Olga folgte Igors Blick und sah, dass man vom Ende der Mauer aus mit
einem Satz auf ein etwas höheres, etwa zwei Meter entferntes Flachdach auf dem
nächsten Gebäude springen konnte, keine große Sache für einen Traceur. Sie sah,
dass es auch der Anwalt sah.
Die Staatsanwältin drapierte einen schwarzen Schal über ihre Mähne;
sie fror und trippelte mit den Füßen.
»Ich muss Sie bitten, da noch einmal hochzugehen«, sagte sie zu Igor
und zeigte auf die Mauerkrone. »Bitte zeigen Sie uns genau, wie es sich
abgespielt hat. Frau Popovich, wenn Sie mal das Opfer markieren.«
»Mein Mandant weiß nicht, wie es war, das hat er bereits gesagt«,
warf Schwalbe ein.
»Vielleicht kommt seine Erinnerung zurück, wenn er oben ist«, sagte
die Staatsanwältin barsch.
»Mit Handschellen kommt er nicht rauf, er braucht die Arme«, sagte
Olga. »Wir müssten sie ihm abnehmen. Vielleicht genügt es, wenn Herr Petrow uns
die Stelle zeigt.«
Igors Augen verengten sich, er federte in den Knien, der Anwalt
machte ein Pokerface.
»Handschellen ab«, kommandierte die Staatsanwältin, »machen Sie
schon, ich habe wenig Zeit.«
Olgas Herz klopfte bis zum Hals. Sie schloss die Handschellen auf
und versuchte, Igor dabei in die Augen zu gucken. Tu es nicht, funkelte sie, es
bringt dir nichts, wir werden dich fair behandeln.
Er zog sich an der Seite der Mauer, die an die Wupper grenzte, in
Windeseile hinauf, die Mauerkrone befand sich etwa vier Zentimeter über Olgas
Kopf, wie Josef Lepple mit Hilfe der Polizisten akribisch ausmaß und
fotografierte. Man konnte rückschließen, dass Ramona Wenkler, die etwa sechs
Zentimeter größer gewesen war als Olga, mit ihrem Oberkopf genau auf der Höhe
von Igors Turnschuhen gewesen sein musste, ein Tritt also mit Leichtigkeit,
fast schon versehentlich erfolgt sein konnte, wenn man zu nahe an die oben
laufende Person herankam.
Igor lief, gefolgt von Olga unter ihm,
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