Katzensprung
Dieses endlose Thema.
»Gestern Nachmittag hatte ich die kleine Sassi zur Vernehmung«,
sagte sie, »ein harter Knochen. Absolut cool und voll informiert. Sie beruft
sich auf ihr Aussageverweigerungsrecht, sie sei mit dem Jungen verlobt.«
»Was macht ihr jetzt?«
»Gar nichts«, sagte Olga, »ich hab es zu Protokoll genommen und der
Staatsanwältin zur Prüfung gegeben. Die schnaubt vor Wut.«
***
Ulrike Henseler, Trudi und Luna mit Petar auf dem Arm standen
schon in der Kapelle des jüdischen Friedhofs am Weinberg, als Igor, flankiert
von Olga und Lepple, hereinkam. Vor der Tür und dem Friedhofseingang hatten
sich Polizisten postiert.
Igor leuchtete auf und lief auf Luna und Petar zu. Petar streckte
ihm die Arme entgegen, Igor drehte sich zu Olga und hob die Hände mit den
Handschellen. Mit strengem Seitenblick auf Lepple, der belehrend den Mund
öffnen wollte, suchte Olga den Schlüssel aus ihrem Bund heraus und nahm ihm die
Fesseln ab.
Igor hob Petar von Lunas Arm, wiegte ihn eine Weile und flüsterte
russische Koseworte, dann setzte er ihn auf seine Hüfte und wandte sich Luna
zu, die dicht vor ihm stand, unverwandt zu ihm hinaufsah und selig lächelte.
Ihr Gesicht war ungeschminkt und ätherisch zart. Sie hatte alle Piercings
herausgenommen, die Einstichstellen leuchteten wie rote Male, und an ihrem Hals
schimmerte die Kette von Igor. Auf ihrem Kopf hatte sich eine wollige Schicht
gebildet, die ihr Madonnengesicht wie ein Käppi umschloss.
Igor legte seine Wange an ihre, Petar lachte mit offenem Mund. Sie
standen still zueinandergeneigt. Eine Pieta, eine zusammengehörige Einheit,
durchfuhr es Trudi schmerzlich. Sie drehte sich zu Ulrike Henseler und Lepple
und begann ein leises Gespräch. Auch Olga entfernte sich ein Stück, behielt die
drei aber diskret im Auge. Igor und Luna sprachen nicht, sie hatten ihre Augen
halb geschlossen, als wären sie in Trance.
Sie tauschen ihre Gedanken aus, dachte Trudi, und ein Kloß stieg ihr
in den Hals. Sie nehmen sich die Freiheit, hier vor aller Augen.
Geh nicht, du bist meine Hälfte, wir sind Yin
und Yang.
Ich muss fort, Lunitschka, du weißt es.
Babuschka will sterben, diesen letzten Winter muss ich bei ihr sein. Ich komme
wieder, ich habe es dir versprochen.
Erzähl mir, was so schön ist an der
Wolga.
Ich möchte mit Schneeschuhen an dem
verschneiten Fluss entlanglaufen, in den paradiesroten Sonnenuntergang hinein.
Tagelang keine Menschenseele, nur Schnee und Wald, manchmal eine Hütte, aus der
ein Licht funkelt. Und ich möchte Babuschkas Piroggen essen und auf ihrem
Kachelofen schlafen.
Ich möchte nicht, dass du so weit fort
bist.
Ich bin doch immer bei dir. Ich bin auf
dich ausgerichtet, egal, wo ich bin. Ich fliege zu dir, wenn du mich rufst.
Ich habe Angst, wenn du nicht da bist,
Igor.
Wir sind Traceure, vergiss es nicht,
Lunitschka, wir gehen nie gesehene Wege, wir sind achtsam, auch mit unseren
Gefühlen. Niemals anhaften, hörst du?
Wann wirst du gehen?
Sobald du mir das Zeichen gibst.
Es ist alles vorbereitet.
Der Rabbiner und einige Frauen aus der jüdischen Gemeinde kamen,
die Igor und Petar bewegt begrüßten. Igor behielt Petar auf dem Arm, als der
Rabbiner die Zeremonie begann und die Trauerrede hielt. Dann folgte die
Beerdigungsgesellschaft dem Sarg über den Friedhofshügel mit den kiesbestreuten
Gräbern bis zu Galina Petrowas letzter Ruhestätte, die in der Talsenke lag.
Nach jüdischem Ritus wurde der zweiundneunzigste Psalm gesungen. Luna las den
Text von einem Blatt mit, das ausgelegen hatte, und bewegte die Lippen, Tränen
liefen über ihr Gesicht.
Denn Er errettet dich vom Strick des Jägers
Und von verderbender Pest.
Er wird dich mit deinen Fittichen decken
Und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln.
Jeder warf ein Schippchen Erde auf den Sarg, dann sang Igor leise
das Kaddischgebet in den zunehmenden Nieselregen und wiegte dabei seinen
Bruder.
Nach dem Ende des Rituals löste sich die Gruppe schnell auf. Ulrike
Henseler nahm Petar und versprach ihm, dass er Igor bald besuchen könne.
Luna ging neben Igor den Hügel hinauf zum Ausgang, Olga folgte mit
Trudi, die bemüht war, ihre Erschütterung zu verbergen, und ließ den Jungen
nicht aus den Augen. Kurz vor dem Friedhofstor zog sie die Handschellen aus der
Tasche und legte sie Igor wieder an. Sie trat als Erste auf die Straße. Dicht
vor dem Tor stand der Mannschaftswagen der Polizei mit geöffneter Tür. Da sah sie,
wie im Rücken der wachhabenden
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