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Katzensprung

Katzensprung

Titel: Katzensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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Polizisten ein Fotograf aus dem Wartehäuschen
der Bushaltestelle schoss und eine Kamera mit einem langen Teleobjektiv zückte.
    »Zurück«, zischte sie Igor, Luna und Trudi zu und schloss schnell
das Tor hinter sich. Sie kannte den Fotografen, der in der Region für das
Revolverblatt arbeitete und häufig bei Terminen auftauchte, von denen
eigentlich niemand wissen konnte. Es musste eine undichte Stelle bei den
Behörden geben.
    Sie rief ihm zu, er solle sich auf der Stelle vom Acker machen,
sonst habe sein Auftraggeber Konsequenzen zu befürchten. Er stammelte etwas von
öffentlichem Interesse, aber Olga schnitt ihm barsch das Wort ab, sie müsse ihm
ja wohl keinen Vortrag über Persönlichkeitsrechte halten.
    Als er weg war, öffnete sie das Tor wieder. Bevor Igor in den Wagen
stieg, lächelte er Luna noch einmal zu und hob die Schulterblätter, als wären
es Vogelflügel, flatterte zart, fast unmerklich.
    ***
    Die Akte Wenkler war zur Vorbereitung der Anklage an die
Staatsanwaltschaft gegangen, aber Olga konnte den Fall nicht loslassen. Sie sah
den Jungen schwerelos über die Begrenzungspoller an der Müngstener Brücke
flanken, über die Mauern tänzeln, an den Wänden hochlaufen. Seinen mächtigen
Katzensprung in ihrem Traum. Sie sah ihn mit Luna auf dem Friedhof am Weinberg
stehen, das Lächeln der beiden. Sie hatten eine eigene Welt, zu der sonst
niemand Zugang bekam. Lunas Arroganz und Unerreichbarkeit, über die sich auch
ihre Mutter bitterlich beklagte. Der Hochmut der Pubertierenden, ihre Selbstgerechtigkeit,
ihr Allmachtsgefühl.
    Der Traceur ebnet den Weg, er überwindet alle Grenzen und
Hindernisse, betritt nie gesehene Wege. Der Satz zog Olga als Endlosschleife
durch den Kopf, er nagte an ihr. Da war noch etwas im Busch, die Sache war noch
nicht ausgestanden.
    Olga war klar, dass ihr vages Bauchgefühl keine intensiveren
Ermittlungen rechtfertigen würde. Im Jugendgefängnis sprach sie mit der
Gefängnispädagogin, die bezaubert von Igor war. Er sei gefasst, kooperativ und
vernünftig, ein mustergültiger Gefangener, der seine Situation mit
unglaublicher Stärke bewältige. Er lese viel in seiner Zelle und mache mehrere
Stunden am Tag Gymnastik, allerdings habe er einen schweren Stand unter den
anderen Häftlingen und sei häufig sexuellen Beleidigungen ausgesetzt.
    Die Pädagogin ging mit Olga in die Turnhalle, wo Igor sein
wöchentliches Sportpensum absolvierte. Der Sportlehrer hatte ihm erlaubt, sich
einen Parcours aus Turngeräten aufzubauen, und sie beobachteten ihn, wie er ihn
immer wieder verbissen durchlief, Saltos sprang, flankte, an der Sprossenwand
hochlief, abrollte, über hohe Aufbauten von Kästen und Barren setzte. Die
Disziplin des Läufers und der Gleichmut des Zen-Schülers lagen als graue Maske
über seiner Verzweiflung. Olga versuchte, ihm zuzulächeln, aber er sah durch
sie hindurch.
    Am Donnerstagabend machte Tülay Lenka und Olga die Haare, vorher
gab es Sarma, und Slatko goss, in Vorfreude auf die am Samstag startende Reise
nach Belgrad, mehrmals Sliwowitz nach. Während rote Farbe in Lenkas Haaransatz einwirkte,
schnitt Tülay Olgas Weihnachtssternzacken radikal ab und verpasste ihr einen
klassischen Zwanziger-Jahre-Schnitt.
    Lenkas demütige Bitte, Tülay möge doch wenigstens einmal
ausprobieren, ob sich Olgas Haare mit dem Lockenstab in Wellen legen ließen,
wurde rigoros zurückgewiesen, allerdings folgte Olga Tülays Vorschlag, eine
dünne Haarsträhne grün zu färben.
    In der Dienstbesprechung am Freitagvormittag versteckte sie die
Strähne mit einer Klemme. Als Tatortbeamtin in der Mordsache Wenkler erntete sie
für die sensible Aufklärung des Falles ein dickes Lob von Kriminaloberrat
Fischbein, verbunden mit dem Bedauern, dass die Zacken der Schere zum Opfer
gefallen waren. Olga betonte die gute Zusammenarbeit des Teams und hob
besonders den Kollegen Lepple hervor, der großes Einfühlungsvermögen gegenüber
den Zeugen bewiesen habe. Sie berichtete von der Fotografenattacke bei der
Beerdigung und warnte vor der Presse, die Igor Petrow auf den Fersen sei.
    »Der Junge ist für etliche Schlagzeilen gut«, warf Lepple ein,
dessen Augen hinter der Weitsichtbrille hell und glücklich strahlten, »und die
Typen sind gnadenlos drauf. Hoffentlich lässt sich der Anwalt nicht kaufen. Die
Pressestelle sollte ein Auge darauf haben.«
    Am Nachmittag fuhr Olga als letzte Amtshandlung vor dem Urlaub zu
Emilio Sassi in die Kneipe, um ihm zu sagen, dass gegen ihn kein

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