Katzensprung
auf das andere Ende der Mauer
zu, die an das anschließende Grundstück mit dem Flachdach grenzte. Olga hielt
den Atem an, bis Igor etwa einen Meter vorher stoppte und sagte, möglicherweise
könne dies die Stelle gewesen sein.
Er sprang herunter und landete genau vor Olga, die ihn erleichtert
anlächelte. Auch der Anwalt strahlte. Die Staatsanwältin verabschiedete sich
eilig, während Lepple und Bauer den Tatort vermaßen und weitere Fotos machten.
Igor sah Olga fragend an und hob seine Hände, um die Schellen wieder
anschließen zu lassen. Sie schüttelte unmerklich den Kopf.
»Kommen Sie in den Wagen«, sagte sie, »es ist kalt. Die Kollegen
werden gleich fertig sein.«
Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln
Clärchen, alles wird gut.
Ich weiß es, und ich tue, was getan
werden muss. Ich bin wach und ganz leer und frei.
Der Spielhallenbesitzer ist nett, er
kennt Grigorij, ich habe ihm eine Nachricht und meine Handynummer hinterlassen.
Igor sagt, Grigorij ist sein Freund, er hat ihm manchmal Sachen für die
Großmutter mitgegeben. Grigorij kommt alle zwei Monate, jetzt im Oktober müsste
er wieder hier sein.
Und am Montag sehe ich ihn, Clari,
Clari, ich sehe IHN .
Seine Mutter wird beerdigt, und ich gehe mit Mama hin.
Sie wird auf dem jüdischen Friedhof am
Weinberg begraben, Petar kommt auch. Ich war heute bei Henselers. Petar fragt
nach Igor, es ist schwer für ihn. Frau Henseler hat mir erzählt, dass die blöde
Kuh von Staatsanwältin zuerst verbieten wollte, dass Igor zur Beerdigung seiner
Mutter geht, wegen Fluchtgefahr. Aber der Anwalt hat gekämpft.
Wenn die wüssten, Clärchen.
Mama ist wieder in der Ottostraße, ich
will auch zurück, Oma braucht ihre Ruhe. Papa wird wohl ausziehen, er ist fix
und fertig, er tut mir richtig leid.
Montag sehe ich Igor, und am Dienstag
werde ich sechzehn. Clari, ich muss ohne dich feiern, wann kommst du endlich
wieder?
Gleich muss ich mit Mama zur Kripo,
aber das werde ich auch überstehen. Die lasse ich glatt ablaufen, es wird mir
ein Vergnügen sein.
Love u
hdggdl
Luna
***
Olga hört seltsame Töne aus der Küche, Lallen, Brabbeln,
Quieken, Lenkas Zirpen, das sich höher schraubt. Sie riecht den Duft von
frischen Przenice, in Eiermilch eingeweichten und in Butter gebratenen, mit
viel Zucker bestreuten Weißbrotscheiben, die Lenka ihr macht, wenn sie
ausgepowert ist und was Süßes braucht.
Sie öffnet die Küchentür und kann nicht glauben, was sie da sieht.
Lenka und Slatko sitzen am Küchentisch, jeder hat einen blonden Strubbelkopf
auf den Knien, und zwei Sabbermäulchen pflücken kleine Stückchen Przenice von
Lenkas Fingern. Slatko strahlt, und Lenka jauchzt vor Freude, die Kleinen
sperren die Münder auf und wollen mehr, mehr, aber ja, ruft Lenka, kleine
Augenblickchen, ihr süße Hosenscheißer. Von Lenka kriegt ihr so viel wie wollt,
kann Papa tausendmal sagen, keine Zucker, keine Zucker. Aber Zucker ist lecker
und gibt Kraft, hier habt ihr, so, so …
Sie schlecken, schlabbern, grunzen.
Wo ist Max?, fragt Olga, der hat doch nicht wirklich seine Brut hier
abgesetzt?
Wie, Brut?, empört sich Lenka. Wer sagt so was von süße Kinderchen?
Wenn du uns keine Enkelkind schenkst, müssen eben andere nehmen.
Slatko guckt schuldbewusst, in Olga steigt dunkelrote Wut auf. Sie
dreht sich auf dem Absatz herum und rennt die Treppe hinunter, bloß weg, ins
Kickboxstudio, Schlag, Schlag, Führhand, Schlaghand, Seitwärtshaken …
»Hey«, rief Tülay, die mit einem Glas Tee vor Olgas Sofa stand und
fast von Boxhieben getroffen wurde, »mit wem prügelst du dich? Wach auf, du
bist ja fix und fertig.«
Olga setzte sich auf, die Wut zuckte noch in ihren Augen, dann fiel
sie erleichtert zurück, weil Samstagnachmittag und sie auf dem Sofa
eingeschlafen war. Sie erzählte den Traum Tülay, die sich vor Lachen bog.
Während Olga den Tee trank und ihre Lebensgeister zurückkehrten,
berichtete Tülay von Hakan, bei dem sich seine Exfrau Hilde wieder gemeldet
hatte. Sie hatte Probleme mit der Familie des neuen Liebhabers in Izmir und kam
wohl generell nicht mit der türkischen Lebensweise zurecht.
»Das ging ja schnell«, sagte Olga. »Und, nimmt Hakan sie zurück? Was
ist mit Frau Sassi?«
»Vergiss es, der ist dermaßen durcheinander«, schimpfte Tülay, »der
weiß gar nicht, was er will. Er wartet jetzt ab, was die eine sagt und was die
andere. Manchmal denke ich, Männer können gar keine eigenen Entscheidungen
treffen.«
Olga nickte missmutig.
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