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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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Aufseher sich gegen die Tür warf. Dann rief er unsere Namen, zuerst die der Schüler, denen er traute. Einer nach dem anderen versprachen wir, Hilfe zu holen, verdrückten uns dann ins Freie, wo wir uns hinter Büschen und Sträuchern erleichterten, und gingen entweder schwimmen oder suchten brav die Lernstunde um sieben Uhr auf, die Pater Barnabus persönlich in diesem Schuljahr eingeführt hatte. Den Zementmörtel musste einer der Platzwarte mit einem Kricket-Schlagholz abschlagen, aber das geschah erst am späten Nachmittag. Wir hofften, dass unser Aufseher bis dahin von den Gestankschwaden überwältigt wäre, vielleicht sogar ohnmächtig und außer Gefecht gesetzt. Doch seine Rache ließ nicht lange auf sich warten. Cassius, der mit der Peitsche traktiert und für eine Weile von der Schule verwiesen wurde, war daraufhin erst recht der strahlende Held für alle jüngeren Schüler und ganz besonders nach einer aufrüttelnden Ansprache des Schuldirektors im Morgengottesdienst, in der Cassius ganze zwei Minuten lang mit einem Bannstrahl belegt wurde, als wäre er einer der gefallenen Engel. Natürlich wurde aus diesem Zwischenfall keine Lehre gezogen – von keiner Partei. Als Jahre später ein ehemaliger Schüler St. Thomas’ Geld für ein neues Kricket-Klubhaus stiftete, sagte mein Freund Senaka: »Sie sollten lieber erst mal anständige Scheißhäuser bauen.«
    Wie ich hatte auch Cassius eine Prüfung unter Aufsicht des Schuldirektors ablegen müssen, damit er an einer englischen Schule aufgenommen werden konnte. Wir mussten verschiedene mathematische Aufgaben lösen, in denen es um Pfund und Shilling ging, obwohl wir in Rupien und Cents rechneten. Es gab auch Fragen zum Allgemeinwissen, zum Beispiel, wie viele Männer die Rudermannschaft von Oxford aufwies oder wer in einem Haus namens Dove Cottage gewohnt hatte. Man forderte uns sogar auf, drei Mitglieder des Oberhauses zu nennen. Cassius und ich waren an jenem Nachmittag die einzigen Schüler im Wohnzimmer des Direktors, und Cassius hatte mir eine falsche Antwort auf die Frage »Wie nennt man einen weiblichen Hund?« zugeflüstert. Cassius hatte gesagt: »Katze«, und das hatte ich übernommen. Es war das erstemal, dass er ein Wort mit mir wechselte, und dieses Wort war eine Lüge. Bis dahin kannte ich ihn nur vom Hörensagen. Alle jüngeren Schüler sahen in ihm den ewigen Tunichtgut von St. Thomas’. Sicherlich erfüllte es die Schulleitung mit Erbitterung, dass er nun im Ausland den Namen ihres Instituts repräsentieren würde.
    In Cassius gab es eine Mischung aus Sturheit und Freundlichkeit. Woher diese Eigenschaften stammten, habe ich nie in Erfahrung gebracht. Er sprach nie von seinen Eltern, und hätte er es getan, hätte er vermutlich eine Geschichte erfunden, um sich von ihnen abzugrenzen. Während unserer Reise interessierte sich im übrigen keiner von uns dreien für den familiären Hintergrund der anderen. Ramadhin erwähnte hin und wieder die besorgten Ratschläge, die seine Eltern ihm wegen seines Asthmas gegeben hatten. Was mich betraf, wussten die zwei anderen nur, dass ich eine »Tante« in der ersten Klasse hatte. Es war Cassius’ Vorschlag gewesen, dass wir unseren familiären Hintergrund für uns behalten sollten. Ich glaube, ihm gefiel die Vorstellung einer gewissen Autarkie. So sah er das Leben unserer kleinen Bande auf dem Schiff. Ramadhins Familienanekdoten ertrug er mit Rücksicht auf Ramadhins körperliche Schwäche. Cassius hatte etwas von einem sanftmütigen Demokraten. Im nachhinein gesehen hatte er nur etwas gegen die Machtfülle eines Cäsars.
    Ich nehme an, dass er mich in diesen einundzwanzig Tagen verändert hat, indem er mich dazu brachte, alles, was um uns herum geschah, in seiner spöttischen oder ganz und gar auf den Kopf gestellten Perspektive zu sehen. Einundzwanzig Tage sind keine lange Zeitspanne in einem Leben, aber nie sollte ich Cassius’ Einflüsterungen vergessen. Im Verlauf der Jahre hörte oder las ich ab und zu von seiner Karriere, aber ich begegnete ihm nie wieder. Mit Ramadhin blieb ich in Kontakt, besuchte ihn in Mill Hill, wo seine Familie wohnte, ging mit ihm und seiner Schwester zu Filmmatineen oder zu der Bootmesse in Earl’s Court, wo wir uns vorzustellen versuchten, welche Taten Cassius begehen würde, wenn er mit uns zusammen wäre.

SCHULHEFT: BELAUSCHTE GESPRÄCHE,
ERSTER BIS ELFTER TAG
    »Sieh ihn nicht an, hörst du mich? Celia? Sieh das Schwein nie wieder an!«
    »Meine Schwester hat einen

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