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Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
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nicht nur golden. Beim Näherkommen sahen wir, dass es ein ganzes Spektrum von Farben war. Das war der »Garten«, den Mr. Daniels nach Europa brachte. Wir standen davor, und dann rannten Cassius und ich und sogar Ramadhin durch die engen Gänge, während Mr. Daniels sich hinhockte und eine Pflanze untersuchte. Wie groß mochte dieser Garten sein? Wir erfuhren es nie genau, denn nie war der ganze Garten gleichzeitig beleuchtet, da die Spezialbeleuchtung, die das Sonnenlicht simulierte, sich selbsttätig ein- und ausschaltete. Und es gab sicherlich Bereiche, die wir während der ganzen Reise nie zu sehen bekamen. Ich weiß nicht einmal mehr, welchen Umriss die Anlage hatte. Heute kommt es mir vor, als hätten wir sie geträumt, als hätte es sie am Ende dieses zehnminütigen Fußmarschs in der Finsternis des Laderaums nie gegeben. Hin und wieder erfüllte feiner Nebel die Luft, und wir legten den Kopf in den Nacken, um den zarten Regen auf dem Gesicht zu spüren. Manche Pflanzen überragten uns. Andere waren so winzig, dass sie uns kaum bis zum Knöchel reichten. Wir streckten die Arme aus und tätschelten die Farne, als wir an ihnen vorbeiliefen.
    »Fasst nichts an!« sagte Mr. Daniels und zog meine ausgestreckte Hand weg. »Das ist Strychnos nux vomica. Nehmt euch in acht – die Pflanze riecht verlockend, vor allem nachts. Man ist fast versucht, die grüne Schale aufzubrechen, stimmt’s? Sie sieht aus wie die bael -Frucht auf Colombo, aber es ist etwas anderes. Es ist ein Brechnussgewächs. Die da drüben mit den nach unten gerichteten Blüten sind Engelstrompeten, eine Stechapfelart. Und die mit den teuflisch schönen, nach oben geöffneten Blüten sind Gemeiner Stechapfel, bei uns auch Teufelstrompeten genannt. Und das hier sind Scrophulariaceae , Braunwurz, ebenfalls gefährlich attraktiv. Allein schon wenn man ihren Duft einatmet, wird man benommen.«
    Cassius atmete tief ein, stolperte theatralisch zurück und »fiel in Ohnmacht«, wobei er mit dem Ellbogen ein paar zarte Pflanzen zerdrückte. Mr. Daniels ging zu ihm hin und entfernte seinen Arm von einem harmlos aussehenden Farn.
    »Pflanzen haben erstaunliche Kräfte, Cassius. Der Saft von der hier sorgt dafür, dass deine Haare schwarz bleiben und deine Fingernägel normal wachsen. Die Pflanzen mit den blauen Blüten da drüben –«
    »Ein Garten auf einem Schiff!« Mr. Daniels’ Geheimnis beeindruckte sogar Cassius.
    »Noah …« sagte Ramadhin leise.
    »Ja. Und ihr dürft nicht vergessen, dass auch das Meer ein Garten ist, wie der Dichter es ausdrückt. Jetzt kommt mal hierher. Ich glaube, neulich habe ich gesehen, wie ihr drei Stücke von einem Rohrstuhl geraucht habt. Das hier dürfte euch besser bekommen.«
    Er bückte sich, und wir bückten uns mit ihm, während er ein paar herzförmige Blätter pflückte. »Das sind Betelpfefferblätter«, sagte er und legte sie mir auf die Handfläche. Dann holte er aus einem Versteck etwas gelöschten Kalk, mischte ihn mit ein paar Splittern Arekanuss, die er aus einer Jutetasche nahm, und reichte Cassius das Gemisch.
    Wenige Minuten darauf wanderten wir den schwachbeleuchteten Weg entlang und kauten Betel. Das milde Rauschmittel war uns nicht unbekannt. Und wie Mr. Daniels uns klargemacht hatte, war es für Ramadhin bekömmlicher, als einen Rohrstuhl zu rauchen. »Bei Hochzeiten tun sie manchmal ein bisschen Gold unter die Paste aus Kalk und Kardamom.« Er schenkte uns einen kleinen Vorrat dieser Ingredienzen und eine Handvoll getrocknete Tabakblätter, und wir beschlossen, das für unsere Spaziergänge vor dem Morgengrauen aufzubewahren, wenn wir die rote Spucke über die Reling in das wogende Meer speien konnten oder hinunter in die Dunkelheit, wo die Nebelhörner waren. Wir gingen mit Mr. Daniels verschiedene Pfade entlang. Seit Tagen waren wir auf See, und die Farbpalette hatte sich auf Weiß und Grau und Blau beschränkt, sah man von einigen Sonnenuntergängen ab. Aber in diesem künstlich beleuchteten Garten prunkten die Pflanzen mit ihren Grün- und Blautönen und mit ihrem grellen Gelb, dass wir fast geblendet waren. Cassius fragte Mr. Daniels nach Einzelheiten von Giftpflanzen aus. Wir hofften, er könnte uns von einem Kraut oder einem Samen erzählen, mit dem man einen verabscheuten Erwachsenen in die Knie zwingen konnte, aber dazu war Mr. Daniels nicht zu bewegen.
    Wir verließen den Garten und gingen durch die Finsternis des Laderaums zurück. Als wir an dem Wandbild mit den nackten Frauen

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