Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ondaatje
Vom Netzwerk:
einer Triere. So würden wir in das Arabische Meer und danach in das Mittelmeer gelangen, mit Mr. Nevil als unserem Flottenkommandeur.
    In jener Nacht erwachte ich plötzlich unter dem Eindruck, dass wir an Inseln vorbeifuhren, die in der Dunkelheit ganz nahe waren. Die Wellen schlugen mit einem anderen Geräusch an das Schiff, mit etwas wie einem Widerhall, als kündeten sie von Land. Ich schaltete das gelbe Licht an meinem Bett ein und sah auf meiner durchgepausten Weltkarte nach. Ich hatte vergessen, Namen einzutragen. Ich wusste nur, dass wir nach Westen und nach Norden fuhren, weg von Colombo.

Eine Australierin
    IN DER STUNDE VOR TAGESANBRUCH , wenn wir aufstanden, um auf dem Schiff umherzustromern, das uns ganz verlassen vorkam, rochen die höhlenartigen Bars nach den Zigaretten der vergangenen Nacht. Ramadhin, Cassius und ich hatten die stille Bibliothek bereits in ein Chaos rollender Wägelchen verwandelt. Eines Morgens begegneten wir unversehens einem Mädchen auf Rollschuhen, das auf dem Holzboden des Oberdecks seine Kreise zog. Offenbar war sie noch früher aufgestanden als wir. Sie lief schneller und schneller, ohne unsere Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, so geschwind, dass sie aufpassen musste, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. An einer Stelle schätzte sie einen Sprung über Kabel falsch ein und krachte gegen die Reling am Heck. Sie stand auf, sah rasch auf die blutende Schramme an ihrem Knie und fuhr weiter mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. Sie war Australierin, und wir waren fasziniert. Soviel Entschlossenheit hatten wir noch nie erlebt. Keines der weiblichen Mitglieder unserer Familien benahm sich so. Später erkannten wir sie im Schwimmbecken wieder, wo sie eine Barrikade aus Wasser aufwirbelte. Es hätte uns nicht überrascht, wenn sie von der Oronsay ins Meer gesprungen wäre und das Schiff zwanzig Minuten lang begleitet hätte.
    Wir standen deshalb noch früher auf, um ihr bei ihren fünfzig oder sechzig Runden zuzusehen. Wenn sie fertig war, zog sie ihre Rollschuhe aus und ging erschöpft und verschwitzt zu der Außendusche. Sie stellte sich in voller Bekleidung unter den spritzenden Wasserstrahl und schüttelte ihre Haare hin und her, als wäre sie ein bekleidetes Tier. Das war eine ungekannte Art von Schönheit. Wenn sie ging, folgten wir ihren Fußspuren, die im hellen Sonnenlicht bereits verdampften, wenn wir uns näherten.

Cassius
    WIE KANN MAN EIN KIND CASSIUS NENNEN , denke ich heute. Die meisten Eltern nehmen inzwischen Abstand davon, einem Erstgeborenen einen solchen Namen zu geben. Obwohl man in Sri Lanka nie etwas dabei fand, antike Vornamen mit singhalesischen Nachnamen zu kombinieren – Solomon und Senaka sind zwar nicht verbreitet, aber es gibt sie. Der Kinderarzt unserer Familie hieß Socrates Gunewardena. Trotz seines schlechten römischen Leumunds ist Cassius eigentlich ein sanfter und leiser Name, auch wenn der junge Cassius, den ich auf unserer Reise kennenlernte, ein ausgesprochener Bilderstürmer war. Ich habe ihn nie die Partei eines Mächtigen ergreifen sehen. Er überzeugte einen von seiner Sicht der Dinge, und von da an sah man die Schichten der Machtverteilung auf dem Schiff mit seinen Augen. Zum Beispiel genoss er es, zu den unwichtigen Personen am Katzentisch zu gehören.
    Wenn Cassius von St. Thomas’ in Mount Lavinia sprach, tat er es mit der Inbrunst, mit der man sich an eine Widerstandsbewegung erinnert. Da er eine Schulklasse über mir gewesen war, hatten uns Welten getrennt, doch für die jüngeren Schüler war er ein leuchtendes Vorbild gewesen, denn er war bei seinen Vergehen fast nie erwischt worden. Und wenn er erwischt wurde, zeigte sich auf seiner Miene keine Spur von Verlegenheit oder Demut. Besonders gefeiert wurde er, nachdem es ihm gelungen war, »Rohrstock«-Barnabus, unseren Aufseher, aus Protest gegen die unzumutbaren sanitären Zustände an der Schule für mehrere Stunden in die Schultoilette der unteren Klassen einzusperren. (Man hockte auf einem Plumpsklo und reinigte sich danach mit Wasser aus einer verrosteten Dose, die einst Zuckersirup von Tate & Lyle enthalten hatte. »Süßigkeit ging aus vom Starken«, wie ich nie vergessen sollte.)
    Cassius hatte gewartet, bis Barnabus um sechs Uhr morgens die Schülertoilette im Erdgeschoss für seine gewohnt lange Sitzung aufsuchte, hatte eine Eisenstange schräg gegen die Tür gestemmt und dann das Türschloss mit schnell härtendem Zementmörtel zugeschmiert. Wir hörten zu, wie unser

Weitere Kostenlose Bücher