Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
zu schminken. In der einen Hand hielt er einen kleinen Spiegel, mit der anderen trug er schnell purpurfarbene Streifen auf. Der Seher war von zierlichem Körperbau, so dass der angemalte Kopf zu groß für den zarten Körper wirkte. Er blickte in den Spiegel, ohne sich meiner Gegenwart bewusst zu sein, und verschönerte sich im Halbschatten des Rettungsboots, das von den Davits hing. Dann richtete er sich auf, und als er in das Sonnenlicht trat, explodierten die Farben geradezu, und die gespenstischen Augen waren mit einemmal schwefelgelb und aufmerksam. Er warf mir einen Blick zu und ging an mir vorbei, als wäre ich Luft. Zum erstenmal hatte ich miterlebt, was sich möglicherweise hinter dem dünnen Vorhang der Kunst abspielt, und das verlieh mir einen gewissen Schutz, als ich ihn das nächstemal in voller Kostümierung auf der Bühne sah. Mir war, als könnte ich das Skelett im Inneren beinahe sehen oder als wäre ich mir dessen nunmehr zumindest bewusst.
Cassius war derjenige, den die Jankla-Truppe am meisten begeisterte. Er wollte unbedingt Mitglied werden, vor allem nachdem Ramadhin uns eines Tages aufgeregt herbeigerufen hatte, um uns zu erzählen, dass er gesehen hatte, wie einer der Artisten einem Mann, dem er Anweisungen gab, die Armbanduhr entwendet hatte. Es war so unauffällig vor sich gegangen, dass der Mann überhaupt nichts gemerkt hatte. Zwei Tage später schlenderte der Seher von Hyderabad in das Publikum und sagte dem Mann, wo seine Uhr sich befinden »könnte«, falls er sie zufällig vermisste. Das war großartig. Ein Ohrring, ein Koffer, die Schreibmaschine aus einer Luxuskabine wurden entwendet und dem Seher von Hyderabad zugesteckt, und dann wurde den Besitzern enthüllt, wo sie sich befanden. Als wir Mr. Daniels von unserer Entdeckung berichteten, lachte er nur und sagte, das sei nichts anderes als das Fischen mit Ködern.
Doch bevor sich Mr. Daniels dieses Hintergrundwissen über die Schauspielertruppe angeeignet hatte, hatte er sich mit ihren Mitgliedern bekannt gemacht und gesagt, er habe eine gute Freundin, Miss Emily de Saram, eine sehr begabte junge Dame, die das Theater liebe, und vielleicht dürfe sie bei den Proben zusehen, wenn er sie mitbringe? Was er wenige Tage später tat, wie ich vermute, obwohl ich nicht weiß, wie sehr sich Emily für das Theater interessierte. Jedenfalls lernte sie auf diesem Weg den Seher von Hyderabad kennen und kam dazu, ein anderes Leben als das zu führen, das man von ihr erwartete.
Abgesehen von seiner offenkundigen Schwäche für Emily weckte Mr. Daniels nicht allzuviel Neugier in uns. Heute würde er mir wahrscheinlich gefallen, ich würde gerne einen von ihm angelegten botanischen Garten besichtigen und ihm zuhören, wie er die besonderen Eigenschaften einer Pflanze schilderte, an der wir vorbeikämen, während Blätter und Palmwedel und Hecken unsere Arme streiften.
Eines Nachmittags nahm er uns drei beiseite und nahm uns zu der versprochenen Besichtigung mit – tief in den Bauch des Schiffs. Wir durchquerten einen mit dem Maschinenraum verbundenen Vorraum, in dem zwei Turbinengebläse die Luft umherwirbelten. Mr. Daniels hatte einen Schlüssel, und mit diesem Schlüssel gelangten wir in den Laderaum, eine dunkle Höhle, die mehrere Decks tief in das Schiff hinunterreichte. Weit unten war hie und da Licht zu sehen. Wir kletterten eine Eisenleiter an der Wand hinunter, vorbei an Zwischendecks voller Kisten und Säcke und riesiger Stücke Rohkautschuks mit seinem betäubenden Geruch. Wir hörten lautes Gackern aus einem Hühnerstall und mussten lachen, weil die Vögel abrupt verstummten, als sie uns bemerkten. Wir hörten Wasser in den Schiffswänden rauschen, und Mr. Daniels erklärte, dass es sich um Meerwasser handelte, das entsalzen wurde.
Als wir unten im Laderaum angekommen waren, ging Mr. Daniels in die Dunkelheit voraus. Wir folgten dem Weg, den uns schwache Lampen wiesen, die knapp über unseren Köpfen hingen. Nach etwa fünfzig Metern ging es nach rechts, und wir stießen auf das Wandbild, von dem Mr. Nevil mir erzählt hatte, auf dem Frauen auf Geschützen saßen. Es war unerwartet groß. Die Gestalten darauf waren doppelt so groß wie wir, und sie lächelten und winkten, obwohl sie splitternackt waren und der Hintergrund eine Wüste war. »Onkel …« fragte Cassius unbeirrt, »was ist das?« Aber Mr. Daniels ließ uns nicht verweilen, sondern scheuchte uns weiter.
Und dann sahen wir einen goldenen Lichtschein. Aber er war
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