Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
sollte oder nicht. Wen würde ich mehr verletzen, wenn ich hinging oder nicht hinging, ihn oder mich? Ich hatte meine Wunde an dem kleinen Waschbecken mit fließend kaltem Wasser »versorgt« – was für ein verharmlosender Begriff. Es war weder fachmännisch noch klug gewesen, und die Narbe würde mir für alle Zeiten erhalten bleiben. Liebhaber, die mich später kennenlernten, betrachteten sie neugierig und taten so, als wäre sie entweder schön oder unwichtig. Und dann zeigten sie mir ihre eigenen Narben, die nie so dramatisch waren wie meine.
Ich ging weg, aus seinem dunklen Flur auf die Via Panicale hinaus, und machte mich auf die Suche nach einer Apotheke. Ich weiß noch, dass ich eine fand und dem Apotheker die Wunde als »tiefen Schnitt« beschrieb.
»Wie ernst?« fragte er.
»Tief«, sagte ich. »Es war ein Unfall.«
Er gab mir ein schwefelhaltiges Mittel, Verbandmaterial, Wundkompressen und ein flüssiges Antiseptikum – ähnlich der ärztlichen Versorgung im Krimkrieg und auch nicht viel besser. Ich sagte nicht, dass es um mich ging, obwohl ich sicher sehr blass war und mich wahrscheinlich kaum auf den Beinen halten konnte. Alles, woran ich mich festhalten konnte, war mein flüssiges Italienisch, und deshalb konzentrierte ich mich darauf. Und der Apotheker redete wie ein Wasserfall, vielleicht um sich zu vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung war. Irgendwann senkte ich den Blick und sah, daß mein Rock blutverschmiert war.
Der Weg nach Hause dauerte lange. Den Großteil des Abends und die ganze Nacht blieb ich im Bett. Ich hatte nichts von dem benutzt, was der Apotheker mir mitgegeben hatte. Ich hatte alles auf den Boden fallen lassen. Ich lag nur auf dem Bett und wollte im Dunkeln gründlich nachdenken. Über das, was ich soeben durchlebt hatte. Ob es für mich eine Zukunft geben würde. Er kam in meinen Überlegungen nicht vor. In diesem Augenblick wurde ich zu mir, nehme ich an.
Am nächsten Tag konnte ich mich fast nicht bewegen. Aber ich zwang mich, aufzustehen und mich vor das Waschbecken zu stellen, neben dem sich ein langer, schmaler Spiegel befand. Ich zog Bluse und Rock ab, die inzwischen an meinem Körper klebten, bis ich die Wunde sehen konnte. Ich trug die Lösung auf, die der Apotheker mir gegeben hatte, ging zum Bett zurück und setzte meine Haut der Luft aus. Ich träumte unruhig. Und führte laute Selbstgespräche. Ich stand auf und sah im Nachmittagslicht in den Spiegel. Die Wunde blutete nicht mehr. Ich würde genesen. Ich würde nicht aus eigenem Verschulden sterben. Und ich würde am nächsten Tag zu dem Sommersonnenwendfest gehen. Ich würde nicht hingehen. Ich würde hingehen.
Ich kam spät, hatte die Begrüßungsansprachen absichtlich verpasst. Ich ging langsam; bei jedem Schritt bohrte sich der Schmerz in meine Seite. Doch ich hörte die Kammermusik und folgte ihrem Klang. Die Musiker befanden sich auf der zierlichen Bühne des Teatrino, des »kleinen Theaters« hinter der zweiten Terrasse. Diesen Ort hatte ich immer geliebt, einen Ort, wo Publikum und Künstler sich von gleich zu gleich begegneten. Dicht hinter den Zuhörern befanden sich unter den beleuchteten Bäumen eine Pianistin und eine Cellistin. Und beim dritten Satz, als sich alles vermischte und die Musik wie ein eigens bestellter Wind durch den Garten strich und uns in ihren Armen davontrug, erfüllte mich plötzlich ein Glücksgefühl. Ich fühlte mich umhüllt, als trüge ich einen Umhang aus Musik.
Ich sah mich um – sah die Familien, die Mitarbeiter, die Honoratioren, denen dieses Geschenk gemacht wurde –, und dann sah ich Horace, wie er der Musik zuhörte. Es sah aus, als studierte er sie eingehend. Alles andere schien für ihn nicht vorhanden zu sein. Dann merkte ich, dass er sich auf die Cellistin konzentrierte, eine Frau, die mit Technik und Inhalt ihrer Kunst untrennbar verbunden war, und ich sah, dass er den Blick unverwandt auf sie gerichtet hielt. Zuerst dachte ich, er hätte sie als sexuelle Beute auserkoren. Doch hier ging es um mehr, wie ich mir eingestehen musste. Horace hätte genausogut ein Auge auf die Pianistin geworfen haben können, deren kundige Finger parallel zur Musik des Cellos tanzten und sie schwerelos begleiteten wie in einer Verbindung von Ingenieur- und Hypnotiseurkunst. Die Kunst der beiden war dieses gemeinsam entfaltete Können, das aus kleinen Windungen und Schrauben und Harz und Saiten und einem einstudierten Takt bestand. Diese Dinge verwurzelten die
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