Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
schwarzgekleidete, unscheinbare Cellistin ganz sinnlich in der Erde. Und es stimmte mich zutiefst zufrieden, dass sie sich in einem Bereich befand, der Horace unzugänglich war, trotz all seiner Macht und all seines Reichtums. Er konnte sie verführen, ihre Dienste in Anspruch nehmen und sie mit seinem Esprit umschmeicheln. Er konnte sie als Sammlerstück erwerben und sie betören, aber er konnte niemals den Ort erreichen, an dem sie sich befand.
Am Fuß der letzten Seite, die sie vor Jahren geschrieben hatte, hatte Miss Lasqueti eine Notiz angefügt:
Wo sind Sie, liebe Emily? Wollen Sie mir Ihre Adresse schicken oder mir schreiben? Das hier habe ich auf der Oronsay geschrieben, um es Ihnen zu geben. Weil mir wie gesagt aufgefallen war, dass Sie, wie ich in meiner Jugend, unter jemandes Einfluss standen. Und ich hatte gedacht, ich könnte Sie retten. Ich hatte Sie mit Sunil von der Jankla-Truppe gesehen, und ich hatte den Eindruck, dass Sie in etwas Gefährliches verwickelt waren.
Aber ich habe Ihnen diese Seiten nicht gegeben. Ich fürchtete … was, weiß ich nicht genau. All die Jahre habe ich an Sie gedacht. Mich gefragt, ob Sie sich befreien konnten. Ich weiß, dass ich damals eine Zeitlang verschlossen und verbittert war, bis ich diesem Teufelskreis entkam. »Verzweifle jung und blicke nie zurück«, hat einmal ein Ire gesagt. Und das habe ich beherzigt.
Schreiben Sie mir!
Perinetta
ZWEI JAHRE NACHDEM ICH DIESEN BRIEF von Miss Lasqueti erhalten hatte, war ich für einige Tage in British Columbia; in mein Hotelzimmer wurde ein Anruf durchgestellt. Es war gegen ein Uhr morgens.
»Michael? Hier spricht Emily.«
Langes Schweigen folgte, bis ich sie fragte, wo sie sich befinde. Ich erwartete eine entfernte Zeitzone, irgendeine europäische Stadt, wo es schon Morgen oder Vormittag war. Doch sie sagte, sie sei nur wenige Meilen entfernt, auf einer der Inseln im Sund. Dort, wo sie weilte, war es ganz eindeutig auch ein Uhr morgens. Sie sagte, sie habe mich in mehreren Hotels zu erreichen versucht.
»Kannst du weg? Ich habe den Artikel über dich in The Georgia Straight gelesen. Kannst du mich besuchen?«
»Wann?«
»Morgen?«
Ich erklärte mich einverstanden, ließ mir den Weg beschreiben, und als sie aufgelegt hatte, lag ich im zehnten Stock des Hotel Vancouver und konnte nicht schlafen. »Nimm die Fähre von Horseshoe Bay nach Bowen Island. Die um halb drei. Ich hole dich ab.«
Und ich tat wie geheißen. Ich hatte sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen.
Mitgehörtes
WIR WAREN NOCH AUF DEM MITTELMEER , Tage von England entfernt. Die Jankla-Truppe gab eine Nachmittagsvorstellung, und während der Zugabe wurden Passagiere auf die improvisierte Bühne gebeten, um mitzuwirken. Emily war darunter. Schon bald wurde sie durch die Luft gewirbelt, bis sie sich in der Horizontalen befand, als wäre sie im Begriff, aus Sunils Händen davonzufliegen.
Dann wurden Emily und die anderen Freiwilligen dazu überredet, die oberste Lage einer menschlichen Pyramide zu bilden. Und sobald sie sich dort oben befanden, begann die Pyramide sich wie ein vielarmiges Lebewesen schwerfällig über Deck zu bewegen. Als sie die Reling erreichten, begannen die Akrobaten, die den unteren Teil der Pyramide bildeten, hin und her zu schaukeln und erschreckten die Freiwilligen oben, die zu schreien begannen, aus Angst oder vor einer ungekannten Freude, die sie in sich entdeckt hatten. Und dann beschrieb dieses Gebäude aus Menschen, von denen einige noch immer schrien, eine langsame Kreisbewegung und kam zu uns zurück. Unter den Freiwilligen hatte nur Emily die Nerven behalten, nur sie schien stolz auf ihre Leistung zu sein, und als man ihnen hinunterhalf, wurde Emily eine kleine Auszeichnung überreicht. Etliche Fanfarenstöße, und Emily wurde noch einmal auf die Schultern eines Mannes aus der Truppe gehoben. Die Gäste des Katzentischs, die anwesend waren, darunter Mr. Daniels, Mr. Gunesekera, meine Freunde und ich, applaudierten geräuschvoll. Sunil, der ganz lässig auf den Schultern eines anderen Akrobaten stand, näherte sich ihr und schloss einen silbernen Armreif um ihr Handgelenk. Als die Schließe in ihre Haut schnitt, zuckte sie zusammen, und für einen beunruhigenden Augenblick sah es aus, als wollten ihre Knie nachgeben. Ich sah eine dünne Blutspur an ihrem Arm. Sunil hielt sie mit einer Hand aufrecht und legte ihr die Handfläche der anderen Hand an die Stirn, um sie zu beruhigen. Sie wurden
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