Kay Scarpetta 16: Scarpetta
hat noch nie einen Fuß in seine Wohnung gesetzt! Und aus heiterem Himmel will sie es tun? Warum? Und warum erlaubt er es nicht? Warum kann er es ihr nur persönlich erklären?«
»Vielleicht aus denselben Gründen, weshalb er ihr nie erzählt, wo er war oder was er gemacht hat«, entgegnete Lucy. »Er verrät ihr nichts von seinen Plänen, zum Beispiel, ob er an diesem Tag etwas erledigen muss. Er schreibt zwar, er wäre eine bestimmte Anzahl von Kilometern zu Fuß gegangen, sagt aber nie, wohin. Seine E- Mails klingen, als befürchtete er, eine dritte Person könnte sie lesen oder ihn beobachten.«
»Lass uns einen Blick auf den Herbst, den letzten Sommer und das Frühjahr werfen«, schlug Berger vor. »Ich möchte sehen, ob es Übereinstimmungen gibt.«
Sie lasen eine Weile. Diese E-Mails zwischen Terri und Oscar unterschieden sich völlig von denen aus jüngster Zeit. Sie waren nicht nur persönlicher, sondern in Tonfall und Inhalt viel entspannter. Er erwähnte Bibliotheken und Buchläden, die er gern besuchte, schilderte seine Spaziergänge durch den Central Park und ein Fitness-Studio, wo er einige Male gewesen war. Allerdings hätten die Geräte nicht gepasst. Seine E-Mails enthielten Einzelheiten und Informationen, die er niemals preisgegeben hätte, wenn er in Sorge gewesen wäre, sie könnten in die Hände eines Menschen geraten, der ihn ausspionierte.
»Damals hatte er noch keine Angst«, sagte Berger. »Offenbar hat Benton recht. Seiner Ansicht nach fürchtet sich Oscar in diesem Moment vor etwas Konkretem. Er fühlt sich hier und jetzt bedroht.«
Lucy tippte Bergers Namen in ein Suchfeld ein. »Ich bin neugierig, ob sein Anruf in deinem Büro letzten Monat in irgendeiner Mail erwähnt wird«, meinte sie. »Die Beschwerde, er werde elektronisch überwacht und verfolgt oder sei Opfer eines Identitätsdiebstahls.«
Sie fand einen Treffer unter Jaime Bergers Namen. Allerdings hatte die fragliche E-Mail nichts mit Oscars kürzlichem Anruf bei der Staatsanwaltschaft zu tun.
Datum: Montag, 2. Juli 2007, 10:47:31 Von: »Terri Bridges«
An: »Jaime Bergen“
CC: »Dr. Oscar Bane«
Betreff: »Interview mit Dr. Kay Scarpetta«
Sehr geehrte Ms. Berger,
ich bin Studentin und schreibe gerade meine Magisterarbeit zum Thema »Die Entwicklung der forensischen Wissenschaft und Medizin in den letzten Jahrhunderten bis zur Moderne«. Der Arbeitstitel lautet »Forensische Spiele«.
Kurz gesagt, hat sich der Kreis vom Lächerlichen zum Oberflächlichen meiner Ansicht nach geschlossen. Das heißt, von Quacksalbereien wie der Phrenologie, der Schädelvermessung und der Vorstellung, die Netzhaut des Opfers habe das Bild des Täters eingefangen, sind wir inzwischen bei den »Zaubertricks« angekommen, wie sie moderne Filme und Fernsehsendungen zeigen. Wenn Sie so nett wären, mir zu antworten, würde ich Ihnen gern mehr erklären. Am besten per E-Mail, aber ich füge auch meine Telefonnummer bei.
Selbstverständlich wäre ich Ihnen für Ihre Anregungen dankbar, doch der wahre Grund für dieses Schreiben ist, dass ich gern Kontakt zu Dr. Kay Scarpetta aufnehmen möchte. Schließlich ist sie, da stimmen Sie mir sicher zu, die Expertin auf diesem Gebiet. Könnten Sie mir vielleicht ihre E-Mail-Adresse geben? Ich habe schon einige Male vergeblich versucht, sie in ihrem Büro in Charleston zu erreichen. Da ich weiß, dass Sie in der Vergangenheit beruflich miteinander zu tun hatten, nehme ich an, dass Sie immer noch in Verbindung stehen und befreundet sind.
Mit freundlichen Grüßen Terri Bridges 212-555-2907
»Anscheinend hast du die nie gekriegt«, stellte Lucy fest.
»Eine Mail von einer Person, die sich Lunasee nennt, und an die allgemeine Adresse der Stadtverwaltung von New York geschickt wurde?«, erwiderte Berger. »Die würde ich in einer Million Jahren nicht erhalten. Viel wichtiger ist die Frage, warum Kay nicht wusste, dass Terri sie kontaktieren wollte. In Charleston geht es doch anders zu als in New York.« »Das würde ich nicht unbedingt sagen«, antwortete Lucy. Berger stand auf und griff nach Mantel und Aktenkoffer. »Ich muss los«, sagte sie. »Wahrscheinlich halten wir morgen eine Besprechung ab. Ich rufe dich an, wenn ich weiß, wann sie anfangt.«
»Spät im letzten Frühling oder im Frühsommer«, meinte Lucy. »Ich kann mir vorstellen, warum meine Tante Terris Nachricht nie bekommen hat, falls es wirklich so gewesen ist. Und ich halte es für sehr
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