Kay Scarpetta 16: Scarpetta
die Kontrolle aufzugeben. Oder besser gesagt, sich vorzumachen, sie gäbe die Kontrolle auf.«
»Ja, sie hat sie aufgegeben, solange es ihr in den Kram passte.«
»Also nie. Sie konnte es gar nicht. So hat sie nicht getickt.
Selbst wenn sie zum Beispiel beim Sex den Eindruck vermittelte, dass sie endlich einmal losließ, tat sie es nicht. Denn nicht Oscar oder ein anderer Partner entschied, was sie kaufte. Vermutlich hatten weder er noch andere Männer in Sachen Kleidung oder Körperbehaarung ein Wort mitzureden. Oscar durfte nicht einmal über seine eigene Körperbehaarung bestimmen. Wahrscheinlich sagte sie an, was lief. Außerdem wann, wo und wie.«
Sie erinnerte sich an Oscars Bemerkung, Terri hätte es gefallen, wenn er makellos durchtrainiert, glatt und sauber gewesen wäre. Sie hätte Sex in der Dusche gemocht. Sie hätte sich gern dominieren und fesseln lassen.
»Sie hatte die Zügel in der Hand«, fuhr Scarpetta fort. »Bis zum Schluss. Deshab hat es den Täter scharfgemacht, sie sich absolut zu unterwerfen.«
»Es stellt sich die Frage, ob Oscar den Druck irgendwann nicht mehr ausgehalten hat«, meinte Marino, ohne dem etwas hinzuzufügen.
Scarpetta stand in der Badezimmertür und musterte den weißen Marmor, die französischen Goldarmaturen und die Eckbadewanne mit Duschkopf und zurückgezogenem Vorhang. Dann fiel ihr Blick auf den polierten Boden aus marmoriertem grauem Stein und stellte sich die Blutergüsse vor, die Terri davongetragen hätte, wenn sie dort vergewaltigt worden wäre. Inzwischen war sie ziemlich sicher, dass es nicht dazu gekommen war. Das Gewicht des Täters, selbst wenn er nur so viel wog wie Oscar, hätte dort, wo ihr Körper den Boden berührte, blaue Flecke verursacht, insbesondere, wenn ihre Hände fest auf dem Rücken gefesselt waren.
Scarpetta fasste ihre Gedanken für Marino zusammen, während sie den ovalen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen über dem Frisiertisch betrachtete. Ihr Spiegelbild blickte ihr entgegen. Von Marino, der sich ebenfalls umsah, war nur die Brust zu erkennen.
»Wenn er ihr beim Sterben zuschauen wollte«, merkte er an, »dann vielleicht auch bei der Vergewaltigung. Doch wenn ich hier vor diesem Spiegel stehe, kann ich mir nicht vorstellen, wie ein normal großer Mensch das geschafft haben soll. Falls er hinter ihr stand, war das doch unmöglich.«
»Außerdem weiß ich nicht, wie sie vergewaltigt werden konnte, ohne die geringste Verletzung aufzuweisen«, fügte Scarpetta hinzu. »Wenn ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren und er sich auf sie geworfen hat, falls es auf dem Bett war, hätte sie doch am Rücken Abschürfungen und Blutergüsse haben müssen. Ganz zu schweigen davon, dass das Bett, nach den Fotos zu urteilen, unberührt aussah.«
»Also keine Verletzungen am Rücken?« »Nein.«
»Und du bist sicher, dass ihre Handgelenke von Anfang an gefesselt waren?«
»Ich kann es nicht beweisen. Aber dass er ihr den Bademantel und den BH vom Leib geschnitten hat, deutet darauf hin.«
»Was macht dich so sicher, dass ihre Hände am Rücken gefesselt waren und nicht vorn? Ich weiß, dass Oscar das der Polizei erzählt hat. Ist das der einzige Grund?«
Scarpetta streckte die Handgelenke aus und legte das linke auf das rechte, als wären sie mit einem Riemen zusammengebunden.
»Ich schließe das aus den Striemen an ihren Handgelenken, das heißt aus ihrer Tiefe, aus den Abständen und so weiter«, antwortete sie. »Wären die Hände vorn gefesselt gewesen, hätte der Täter den Riemen unter dieses Handgelenk geschoben« - sie wies auf das rechte -, »so dass der Verschluss ein Stückchen rechts vom Knochen gelegen hätte. Bei einer Fesselung auf dem Rücken ist die Position umgekehrt.«
»Ist der Mörder deiner Ansicht nach Rechts- oder Linkshänder?«
»Ausgehend davon, wie er den Riemen zugezogen hat? Das deutet auf einen Linkshänder hin, vorausgesetzt, er hat sich ihr beim Fesseln zugewandt. Oscar Bane ist übrigens Rechtshänder, obwohl ich dir das eigentlich nicht verraten dürfte.«
Sie und Marino streiften frische Handschuhe über, betraten das Badezimmer und stellten den Stuhl vor dem Frisiertisch in die Mitte des Raums. Scarpetta maß die Höhe von den geschwungenen Beinen bis zu dem mit schwarzem Stoff bezogenen Sitz ab. Dieser wies dunkle Flecken auf, was ihre Theorie bestätigte.
»Vermutlich Reste des Gleitmittels«, verkündete sie. »Sie sind niemandem aufgefallen, denn
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