Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Finger.
»Die Kleider sind so ausgebreitet, wie eine außergewöhnlich ordentliche Person es bei der Auswahl ihrer Abendgarderobe tun würde«, erklärte sie. »Genau so, wie sie den ganzen Abend bis ins letzte Detail geplant hat. Meiner Ansicht nach hat sie sich immer so verhalten. Sie hat das Abendessen vorbereitet, möglicherweise den Wein ein paar Stunden zuvor aus dem Kühlschrank geholt, damit er die richtige Temperatur hat, den Tisch gedeckt und die Blumen, die sie zuvor auf dem Markt gekauft hatte, in eine Vase gestellt. Sie war im Bademantel. Vielleicht hatte sie gerade geduscht.«
»Hattest du den Eindruck, dass sie sich die Beine rasiert hatte? «, fragte er.
»Da gab es nichts zu rasieren«, antwortete Scarpetta. »Sie ließ sich die Körperbehaarung von einer Hautärztin entfernen.«
Die Fotos raschelten, als Marino nach denen suchte, die das Innere von Terris Schränken und Schubladen zeigten. Die Polizei hatte sie nicht in ihrem ursprünglich ordentlichen Zustand hinterlassen. Er und Scarpetta kramten in Socken, Strumpfhosen, Unterwäsche und Sportkleidung. Alles war von zahlreichen behandschuhten Händen durchwühlt worden, lag nun in wirren Haufen herum oder hing schief an den Kleiderbügeln. Außerdem hatten die Polizisten eine ansehnliche Sammlung von hochhackigen Schuhen mit Plateausohlen und Sandalen mit Stilettoabsätzen, verziert mit Strasssteinen oder Knöchelriemchen, entdeckt, und zwar in verschiedenen Größen zwischen vierunddreißig und sechsunddreißig.
»Es ist ausgesprochen schwierig, welche zu finden, die passen«, stellte Scarpetta fest, als sie den Berg Schuhe betrachtete. »Eine echte' Quälerei, und ich vermute, dass sie den Großteil ihrer Einkäufe im Internet erledigt hat. Vielleicht sogar alle.«
Sie legte ein Paar mit Strasssteinen besetzte Flipflops zurück auf den Teppich unter die Kleiderstange, die im Gegensatz zu allem anderen in dieser Wohnung niedriger als gewöhnlich angebracht war, damit Terri sie ohne Greifarm oder Hocker erreichen konnte.
»Ich bleibe außerdem bei meiner Theorie, dass sie sich an Verbrauchertipps orientiert hat«, fügte sie hinzu. »Wahrscheinlich auch bei den aufreizenderen Stücken.«
»Diesem Ding würde ich etwa drei Sterne geben«, verkündete Marino und hielt einen Tanga hoch, den er gerade aus einer Schublade genommen hatte. »Aber wenn du mich fragst, hängt die Bewertung von Unterwäsche doch davon ab, wer sie trägt.«
»Victoria's Secret. Frederick's of Hollywood«, stellte Scarpetta fest. »Netzeinsätze und Netzstrümpfe. Spitzenhemdchen und Höschen mit offenem Schritt. Ein Korsett. Wenn sie unter dem Bademantel einen Push-up-BH aus Spitze trug, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie nicht auch das passende Höschen dazu anhatte.«
»Was genau ist denn ein Push-up-BH?«
»Er hebt das Ganze an, wie der Name schon sagt«, antwortete sie. »Damit die Angelegenheit größer wirkt.«
»Aha. Das Ding, das er ihr vom Leib geschnitten hat. Der sah aber nicht so aus, als würde er viel verdecken.«
»Hat er auch nicht, und das genau war der Zweck der Übung«, entgegnete sie. »Deshalb hat sie ihn ja getragen, vorausgesetzt, dass es nicht die Idee des Täters war.«
Scarpetta räumte die Wäsche zurück in die Schublade.
Einen Moment lang hatte sie Mühe, Marino anzusehen, denn sie erinnerte sich an die Geräusche, die er ausgestoßen hatte, seinen Geruch und seine erschreckende Kraft. Die hatte sie erst später gespürt, als die Schmerzen begannen und sich von den Quetschungen brennend bis zum Knochen ausbreiteten.
»Das und die vielen Kondome«, meinte Marino.
Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und öffnete die Schubladen des Nachttischs. Die Kondome waren von der Polizei sichergestellt worden.
»Auf den Fotos kannst du sehen, dass sie Hunderte von Kondomen in der obersten Schublade hatte«, fuhr er fort. »Das ist vielleicht eine Frage für Benton, aber falls sie eine Ordnungsfanatikerin war ... «
»Daran besteht kein Zweifel.«
»Sie war sehr unflexibel. Alles musste genau an seinem Platz liegen. Wie kann so ein pedantischer Mensch eine wilde Seite haben?«
»Hältst du es für seltsam, wenn ein Zwangsneurotiker auf Sex steht?« »Irgendwie schon.«
Marino schwitzte und war rot im Gesicht.
»Ich finde es plausibel«, erwiderte Scarpetta. »Mit Sex hat sie ihre Ängste betäubt. Vielleicht war es für sie der einzig akzeptable Weg, ihre Hemmungen fallen zulassen und
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