Kay Scarpetta 16: Scarpetta
befasste, und »man« war entweder das Ministerium für Heimatschutz oder die Terrorgruppe, die sie für ihre streng geheime und zugegebenermaßen höchst zweifelhafte Tätigkeit - über die sie noch nie mit jemandem gesprochen hatte - bezahlte.
Soweit sie feststellen konnte, wussten nur der italienische Agent, der sie telefonisch eingestellt hatte (sie hatte ihn nie zu Gesicht bekommen und kannte auch seinen Namen nicht), und der anonyme Autor, der die Kolumnen schrieb und sie per E-Mail an Shrew schickte, damit sie sie Korrektur las und formatierte, dass sie für Gotham Gotcha arbeitete. Sie stellte die Artikel dann ins Netz, den Rest erledigte das Programm, so dass die Kolumnen eine Minute nach Mitternacht auf der Website erschienen. Falls wirklich Terroristen dahintersteck- ten, hatten sie Dr. Scarpetta im Visier und wollten sie beruflich und persönlich treffen. Womöglich war sogar ihr Leben in Gefahr.
Shrew musste sie warnen.
Aber wie sollte sie das tun, ohne zuzugeben, dass sie die anonyme Systemverwalterin einer anonymen Website war?
Gar nicht.
Grübelnd saß sie vor ihrem Computer, beobachtete den Streifenwagen vor ihrem Fenster und überlegte, wie sie ihr eine Botschaft zukommen lassen sollte, ohne ihren Namen zu verraten.
Während sie noch diesen unangenehmen Gedanken nachhing, wurde so laut an die Tür geklopft, dass sie zusammenzuckte. Vielleicht war es ja der seltsame junge Mann aus der Wohnung gegenüber. Wie die meisten Leute, die noch Angehörige besaßen, war er über die Feiertage verreist gewesen. Nun war er vermutlich zurück und wollte sich etwas borgen oder eine Frage stellen.
Als sie durch den Türspion spähte, sah sie zu ihrem Entsetzen ein flächiges, derbes Gesicht, einen kahl werdenden Schädel und eine altmodische Nickelbrille.
o mein Gott!
Sie griff zum Telefon und wählte die Notrufnummer der Polizei.
In der Cafeteria des Bellevue saßen Benton Wesley und Jaime Berger in einer rosafarben gepolsterten Nische hinten im Raum, wo sie ungestört waren. Wer Berger nicht kannte, bemerkte sie häufig ohnehin nicht.
Ihr Äußeres war ansprechend, ihre Figur mittelgroß und schlank. Außerdem hatte sie dunkelblaue Augen und schimmerndes dunkles Haar. Wie immer war sie elegant gekleidet, heute trug sie einen anthrazitfarbenen Kaschmirblazer, einen schwarzen Pulli mit Knöpfen, einen schwarzen, hinten geschlitzten Rock und schwarze Pumps mit kleinen silbernen Schnallen an den Seiten. Berger takelte sich zwar nicht auf, hatte aber kein Problem damit, weiblich zu wirken. Sie war dafür berüchtigt, dass sie sich, wenn die Blicke von Anwälten, Polizisten oder Gewaltverbrechern über ihre Kurven glitten, vorbeugte und auf ihre Augen deutete. »Hier spielt die Musik, wenn ich mit Ihnen rede«, pflegte sie dann zu sagen.
Sie erinnerte Benton in vielem an Scarpetta. Ihre Stimme war ebenso leise und dunkel und zwang zur Aufmerksamkeit, gerade deshalb, weil sie diese nicht einforderte. Beider Gesichter strahlten Klugheit aus. Und ihre Figur entsprach genau Bentons Vorstellungen, klare Linien und üppige Kurven. Er hatte eben seine Vorlieben, das musste er zugeben. Doch wie er gegenüber Dr. Thomas gerade beteuert hatte, war er Scarpetta treu und würde es immer bleiben. Selbst in seinen Träumen betrog er sie nicht und schaltete sofort auf einen anderen Kanal um, wenn in seinen Phantasien erotische Wunschvorstellungen abliefen, die sie nicht einschlossen. Ein Seitensprung kam für ihn nicht in Frage. Niemals.
Allerdings war er nicht immer so tugendhaft gewesen.
Hatte Dr. Thomas vielleicht recht? Seine erste Frau Connie hatte er betrogen, und wenn er ehrlich mit sich war, hatte er schon ziemlich früh damit angefangen. Damals hatte er sich vorgemacht, dass es nicht verwerflich, ja, sogar gesund sei, sich an denselben Zeitschriften und Filmen zu ergötzen wie seine Geschlechtsgenossen. Insbesondere während der vier zölibatären Monate an der FBI - Akademie, wo es abends nicht viel mehr zu tun gab, als sich ein paar Bier im Aufenthaltsraum zu genehmigen und dann in sein Zimmer zurückzukehren, um ein wenig Dampf abzulassen und dem streng reglementierten Alltag zu entfliehen.
Diese heimliche, aber wohltuende Praxis hatte er während seiner Vernunftehe beibehalten, bis er und Scarpetta an einem Fall zu viel zusammengearbeitet hatten und gemeinsam im Travel Eze Motel gelandet waren. Er hatte seine Frau und die Hälfte einer beträchtlichen Erbschaft verloren. Seine
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