Kay Scarpetta 16: Scarpetta
lassen, dass sie klein, unwichtig und dem namenlosen Prominenten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Shrew war ein Nichts, weshalb sie auch kein Recht auf ein paar Tage Freizeit hatte, an denen alles erledigt war und sie nicht an die Arbeit denken musste. Sie hatte die Pflicht, dem Chef stets zur Verfügung zu stehen und nach seiner Pfeife zu tanzen. Der Chef erhörte Shrews Gebete - oder auch nicht -, indem er nach Gutdünken zur Maus griff und »jetzt senden« anklickte.
Deshalb war es ein Glück, dass es Shrew ohnehin vor den Feiertagen gegraut hatte. Für sie bedeuteten sie nicht mehr als ein leeres Schiff, das sie von einem Jahr ins nächste trug und sie daran erinnerte, was ihr fehlte, worauf sie sich nicht freuen konnte, und wie grausam und böswillig die Biologie ihr mitspielte. Im Rückblick hatte sich dieser Prozess - anders, als es die Logik eigentlich gebot - nicht schrittweise vollzogen: ein graues Härchen hier, eine Falte oder ein steifes Gelenk da.
Stattdessen hatte sie eines Tages in den Spiegel geschaut, ohne die Dreißigjährige in sich zu sehen und ohne die fremde Greisin zu erkennen, die ihr da entgegenblickte. Wenn sie ihre Brille aufsetzte, bemerkte sie inzwischen schlaffe, runzelige Haut und stellte fest, dass sich Pigmentflecken überall auf ihrem Körper breit gemacht hatten wie Hausbesetzer. Ihr Haar war wie ein vernachlässigter Rasen von seinem angestammten Platz an eine Stelle außerhalb des Gartens gewandert. Außerdem fragte sie sich, wozu sie so viele Venen brauchte - vermutlich damit ihr Blut die lebensmüden Zellen schneller erreichte.
Deshalb war sie froh, in diesen freudlosen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr keine Minute für sich zu haben. Sie stand auf Abruf bereit und wartete auf die nächste Kolumne, ganz gleich, wie viele bereits im Umlauf waren und die Stimmung in New York bis zum Höhepunkt aufheizten, dem Neujahrstag, wenn der Chef für gewöhnlich zwei Kolumnen gleichzeitig veröffentlichte. Selbstverständlich handelte es sich dabei um die sensationellsten Klatschgeschichten.
Shrew hatte die zweite vor kurzer Zeit erhalten und war gleichzeitig überrascht und verwundert. Der Chef befasste sich nie zweimal nacheinander mit demselben Prominenten, doch auch diese zweite Meldung des Tages drehte sich ausschließlich um Dr. Kay Scarpetta. Ganz sicher würde sie einschlagen wie eine Bombe, denn sie enthielt alles, was ein saftiges Gerücht ausmachte: Sex, Gewalt und die katholische Kirche.
Shrew rechnete mit einem regen Rücklauf von Kommentaren und vielleicht sogar mit einer zweiten Verleihung des begehrten Skandaljournalismus- Preises. Natürlich würde wie beim letzten Mal wieder das Rätselraten beginnen, wenn niemand erschien, um ihn entgegenzunehmen. Allerdings war Shrew die Sache nicht ganz geheuer. Was hatte diese hochangesehene Gerichtsmedizinerin bloß verbrochen, dass der Chef derart auf ihr herumhackte?
Sorgfältig las sie die neue Kolumne noch einmal durch, um sicherzugehen, dass sie keinen Tipp- oder Kommafehler übersehen hatte. Während sie den Text formatierte, fragte sie sich, woher um alles in der Welt der Chef diese streng persönlichen Informationen hatte, die sie wie immer rot kennzeichnete. Diese Markierung bedeutete, dass die betreffende Tatsache noch nie zuvor bekannt geworden war, also eine besondere Wichtigkeit besaß. Mit seltenen Ausnahmen handelte es sich bei den hier veröffentlichten Gerüchten nämlich um Anekdoten, Beobachtungen, Klatsch und Lügengeschichten, eingeschickt von den Fans und aussortiert von Shrew, die sie anschließend an die Datenbank des Chefs weiterleitete. Diese Fakten über Dr. Scarpetta waren jedoch nie über Shrews Schreibtisch gegangen.
Wie also war der Chef da rangekommen ?
Falls die Informationen stimmten, war Dr. Kay Scarpetta in einer armen, bildungsfernen italienischen Familie aufgewachsen. Ihre Schwester hatte es schon vor der Pubertät mit Jungs getrieben. Ihre Mutter war dumm wie Bohnenstroh, und ihr Vater, gerade erst eingewandert, betrieb einen kleinen Gemischtwarenladen, wo die kleine Kay als Kind häufig aushalf. Jahrelang hatte sie in seinem Krankenzimmer die Ärztin gespielt, als er an Krebs erkrankt war, ein Umstand, der ihre spätere Faszination für den Tod erklärte. Der Gemeindepriester hatte Mitleid mit ihr gehabt und ihr ein Stipendium an einer konfessionellen Schule in Miami beschafft, wo sie als Streberin, Jammerlappen und Petze galt. Alles gute Gründe,
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