Kay Scarpetta 16: Scarpetta
ging er noch kurz etwas erledigen und kam nie wieder.
Sie gab sich keinen Illusionen hin, was er von ihrer Tätigkeit gehalten hätte, wenn er noch hier gewesen wäre. Er hätte es niemals geduldet, dass sie als anonyme System-Administratorin der Website von Gotham Gotcha arbeitete, und die Website selbst als widerwärtigen Müll bezeichnet, nur dazu gedacht, andere Menschen gnadenlos bloßzustellen und zu kränken. Außerdem hätte er es für Wahnsinn gehalten, sich von Leuten bezahlen zu lassen, denen sie niemals begegnet war und deren Namen sie nicht einmal kannte. Er hätte es ausgesprochen unseriös gefunden, dass Shrew keine Ahnung hatte, wer der geheimnisvolle Verfasser der Kolumne war.
Doch am meisten hätte ihn entsetzt, dass es sich bei dem »Agenten«, der sie telefonisch eingestellt hatte, um einen Ausländer handelte. Der Mann hatte zwar behauptet, in England zu leben, klang aber etwa so englisch wie Tony Soprano. Hinzu kam, dass er Shrew gezwungen hatte, einige Verträge zu unterzeichnen, ohne dass sie sie zuvor ihrem Anwalt hatte vorlegen können. Nachdem der Papierkram erledigt war, musste sie einen Monat lang zur Probe arbeiten. Ohne Bezahlung. Anschließend hatte sie nie jemand angerufen, um ihr mitzuteilen, wie zufrieden man mit ihrer Leistung sei oder dass der Chef (wie Shrew den namenlosen Verfasser nannte) sie in den höchsten Tönen gelobt hätte. Sie hatte nie wieder ein Wort von dem Agenten gehört.
Also hatte sie einfach weitergearbeitet. Alle zwei Wochen wurde ein Betrag auf ihr Konto überwiesen. Ohne Steuerabzug. Außerdem erhielt sie weder betriebliche Sozialleistungen noch eine Erstattung ihrer Aufwendungen, wie zum Beispiel den neuen Computer und den Reichweitenverstärker für ihr drahtloses Netzwerk, den sie vor einigen Monaten gekauft hatte. Auch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall oder Überstundenvergütung musste sie verzichten. Wie der Agent ihr erklärt hatte, gehörte es zu ihren Aufgaben, rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen.
In einem früheren Leben hatte Shrew richtige Positionen bei real existierenden Unternehmen bekleidet. Ihre letzte Stelle war die der Leiterin des Datenbank- Marketing bei einer Unternehmensberatung gewesen. Sie war nicht unerfahren und wusste genau, dass ihre derzeitigen Arbeitsbedingungen ungesetzlich waren. Allerdings wurde sie verhältnismäßig gut bezahlt, und es war ihr eine Ehre, bei einem namenlosen Prominenten beschäftigt zu sein, über dessen Kolumne nicht nur New York, sondern das ganze Land sprach.
An den Feiertagen hatte Shrew immer alle Hände voll zu tun. Nicht aus privaten Gründen, denn ein Privatleben war ihr eigentlich nicht gestattet. Doch auf der Website ging es dann stets besonders hoch her, weshalb die Gestaltung des Werbebanners eine große Herausforderung war. Shrew war zwar eine kluge Frau, hielt sich aber nicht sehr viel auf ihre Fähigkeiten als Grafikdesignerin zugute.
Um diese Jahreszeit stieg auch die Anzahl der Artikel. Anstatt drei Kolumnen pro Woche zu verfassen, verausgabte sich der Chef, um seine Anhängerschaft und die Sponsoren zufriedenzustellen und sie dafür zu belohnen, dass sie ein Jahr lang als treues und begeistertes Publikum Geld in seine Kassen gespült hatten. Von Heiligabend an hatte Shrew deshalb Anweisung, eine Kolumne täglich ins Netz zu stellen. Manchmal hatte sie Glück und erhielt einige Texte auf einmal, so dass sie sie in die Warteschlange setzen und automatisch nacheinander abschicken konnte. Auf diese Weise verschaffte sie sich eine kurze Pause und konnte ein paar Kleinigkeiten wie einen Friseurbesuch oder einen Spaziergang unternehmen, anstatt auszuharren, bis der Chef Nachschub lieferte. Allerdings interessierte sich der Chef nicht im Geringsten für Shrews Wohlbefinden - und wahrscheinlich sah die Wahrheit sogar noch ein wenig unschöner aus.
Shrew hatte nämlich den Verdacht, dass der Chef die Dinge absichtlich verzögerte und seinen Computer so programmierte, damit er stets nur einen Text auf einmal abschickte, obwohl er sicherlich schon mehrere in der Schublade hatte. Und daraus ließen sich wiederum zwei wichtige Dinge ableiten.
Erstens hatte der Chef im Gegensatz zu Shrew offenbar ein Privatleben und arbeitete im Voraus, damit er vielleicht verreisen, Zeit mit Freunden und Familie verbringen oder sich einfach nur ausruhen konnte. Und zweitens machte sich der Chef anscheinend Gedanken über sein Verhältnis zu Shrew und wollte sie nicht vergessen
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