Kay Scarpetta 16: Scarpetta
Internet lesen zu müssen. So absurd diese Geschichten auch klingen, sie werden sich überall verbreiten und tun es vermutlich schon. Du kannst der Sache nicht entrinnen, nicht einmal bei CNN, wo du Freunde hast. Sobald du das Studio betrittst, wird sich jemand verpflichtet fühlen, dich danach zu fragen. Wahrscheinlich wirst du dich daran gewöhnen müssen. Und ich auch.«
Scarpetta dachte nicht an den Skandal oder daran, wie sie sich an so etwas gewöhnen sollte, sondern grübelte über Marino nach.
»Offenbar hat Lucy bei ihrem Anruf vorhin über Marino gesprochen«, stellte sie fest.
Benton schwieg. Auch eine Antwort. Ja, anscheinend traf ihre Vermutung zu.
»Was hast du gemeint, als du sagtest, er habe sonst keinen Ausweg gewusst? Oder hast du von jemand anderem geredet? Du darfst in dieser Situation keine Geheimnisse vor mir haben.«
»In Lucys Augen ist sein Verhalten eine Art Fahrerflucht«, erwiderte Benton. Inzwischen hatte Scarpetta einen Riecher dafür, wenn er ihr auswich. »Weil er einfach verschwunden ist. Ich habe ihr schon tausendmal erklärt, dass jeder Mensch einen Ausweg sucht, wenn er seine Lage für hoffnungslos hält. Das ist sicher auch dir nicht neu. Du kennst die Geschichte. Und du kennst Lucy.«
»Welche Geschichte? Es hat sich niemand die Mühe gemacht, mich zu informieren. Eines Tages war er einfach weg. Allerdings habe ich nie angenommen, dass er sich umgebracht hat. Dazu ist er weder mutig noch dumm genug. Außerdem hat er eine schreckliche Angst davor, in die Hölle zu kommen. Er glaubt wirklich daran, dass es sie gibt, und stellt sie sich als realen Ort irgendwo im kochend heißen Erdkern vor, wo jeder, der dort landet, bis in alle Ewigkeit schmoren muss. Das hat er mir mehr als einmal im Suff gestanden. Deswegen wünscht er auch die Hälfte der Erdbevölkerung zum Teufel, nämlich weil er sich selbst entsetzlich davor fürchtet.«
Unendliche Trauer malte sich in Bentons Blick.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, und ich glaube dir kein Wort«, fuhr Scarpetta fort. »Da muss doch noch etwas passiert sein.«
Sie sahen einander an.
»Er ist hier«, entgegnete Benton schließlich. »Und zwar seit vergangenem Juli. Genauer gesagt, dem ersten Juliwochenende.«
Er erklärte ihr, dass Marino für Berger arbeitete, die nun in der Klatschkolumne gelesen habe, warum Marino wirklich aus Charleston geflüchtet sei. Bei seiner Einstellung habe sie nichts von dieser unschönen Angelegenheit geahnt. Lucy wisse es deshalb, weil Berger ihr es gerade eben erzählt habe.
»Darum hat Lucy vorhin angerufen«, sprach er weiter. »Und da ich dich gut kenne, nehme ich an, du hättest gewollt, dass ich Marino trotz allem, was geschehen ist, helfe. Außerdem wärst du sicher damit einverstanden gewesen, dass ich seinem Wunsch entspreche, eine Therapie machen und noch einmal neu anfangen zu können, ohne dass du davon erfährst.«
»Du hättest mir schon vor langer Zeit reinen Wein einschenken müssen.«
»Das durfte ich nicht. Der Fall liegt ganz ähnlich wie bei dir und Oscar Bane. Die ärztliche Schweigepflicht. Marino hat mich kurz nach seinem Verschwinden aus Charleston im McLean angerufen und mich gebeten, ihm einen Therapieplatz zu besorgen. Er wollte außerdem, dass ich mich mit seiner dortigen Therapeutin kurzschließe und die Behandlung sozusagen leite.«
»Und dann hast du ihn bei Jaime Berger untergebracht?
Musste das ebenfalls geheim bleiben? Was hat denn das mit der ärztlichen Schweigepflicht zu tun?«
»Er hat mich ausdrücklich darum gebeten.«
Benton klang zwar, als wäre er seiner Sache sicher, doch der Ausdruck in seinen Augen strafte diese Gewissheit Lügen.
»Hier geht es nicht um die ärztliche Schweigepflicht oder darum, was für ein netter Kerl du bist«, gab Scarpetta zurück. »Es steckt etwas völlig anderes dahinter. Deine Begründungen sind deshalb so unglaubwürdig, weil er unmöglich für Jaime Berger arbeiten kann, ohne dass ich es irgendwann rauskriege, wie es ja jetzt geschehen ist.«
Scarpetta begann, den Polizeibericht durchzublättern, weil sie Benton nicht anschauen wollte. Sie spürte die Gegenwart einer dritten Person hinter sich, bevor diese das Wort ergriff, drehte sich um und betrachtete erschrocken den Mann, der auf Bentons Türschwelle stand.
Mit seiner schlabberigen Rapperkleidung, den dicken Goldketten und den unzähligen Zöpfchen sah der Fremde aus, als wäre er gerade aus dem
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