Kay Scarpetta 16: Scarpetta
böse.«
»Wie wurde sie verständigt?« Sie blätterte eine Seite um. »Über die Notrufzentrale. Oscar Bane behauptet, er habe Terris Leiche gegen fünf gefunden, hat jedoch erst um sechs die Polizei gerufen. Genau gesagt, um neun nach sechs. Die Beamten waren etwa fünf Minuten später da.«
Als sie nichts erwiderte, griff er nach einer Büroklammer und begann, sie zu verbiegen. Normalerweise fingerte er nicht an Gegenständen herum.
»Die Haustür war abgeschlossen«, fuhr er fort. »In dem Haus befinden sich noch drei weitere Wohnungen, aber es war niemand da, und es gibt auch keinen Portier. Da die Polizisten nicht ins Haus konnten, die Wohnung jedoch im Parterre liegt, sind sie um das Gebäude herumgegangen, haben in die Fenster geschaut und durch einen Spalt im Vorhang Oscar Bane auf dem Badezimmerboden sitzen gesehen. Er hielt eine Frau in den Armen. Sie war mit einem blauen Handtuch zugedeckt. Er weinte bitterlich, drückte sie an sich und streichelte sie. Die Polizisten haben so lange an die Scheibe geklopft, bis er sie bemerkt und hereingelassen hat.«
Sein Tonfall klang mechanisch. Er fühlte sich benommen und ein wenig durcheinander, vermutlich weil er unter großem Druck stand. Während er weiter an der Büroklammer herumbog, beobachtete er sie.
»Und was geschah dann?«, erkundigte sie sich nach einer langen Pause und hob den Kopf. »Hat er mit ihnen geredet?« Sie vergleicht Oscars Aussage mit dem Polizeibericht, dachte er. Sie will herausfinden, ob sich meine Informationen mit dem decken, was Oscar ihr erzählt hat. Sie verhält sich so kühl und unpersönlich, weil sie mir nicht verzeihen kann.
»Es tut mir leid. Bitte sei mir nicht böse«, wiederholte er. Sie hielt seinem Blick stand. »Mich wundert, dass sie nur einen BH und einen Bademantel anhatte. So würde man doch keinem Fremden die Tür aufmachen.«
»Wir können jetzt nicht darüber sprechen.« Damit meinte Benton ihre Beziehung. »Wollen wir es auf später verschieben?«
Diesen Satz benutzten sie immer, wenn private Probleme zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort auftraten. Ihr nachdenklicher Blick und ihre Augen, die nun noch blauer wirkten, verrieten ihm, dass sie einverstanden war. Sie war bereit, das Gespräch zu vertagen, weil sie ihn liebte, obwohl er es nicht verdient hatte.
»Wie sie bekleidet war, als sie die Tür aufmachte, ist eine interessante Frage«, stellte er fest. »Dazu habe ich auch noch ein paar Anmerkungen zu machen.«
»Wie genau hat Oscar Bane sich verhalten, als die Polizisten die Wohnung betraten?«, wollte sie wissen.
»Er weinte, konnte sich kaum auf den Beinen halten und schrie herum. Ständig wollte er zurück ins Bad laufen, so dass zwei Beamte ihn festhalten mussten, während sie versuchten, seine Aussage aufzunehmen. Er gab an, er habe die Plastikfessel aufgeschnitten. Sie lag auf dem Badezimmerboden neben einer Schere, die seinen Worten nach aus dem Messerblock in der Küche stammte.«
»Hat er das Wort Plastikfessel benutzt? Oder waren es die Polizisten? Es ist wichtig, wer das Wort zuerst in den Mund genommen hat.«
»Keine Ahnung.«
»Aber jemand muss es doch wissen.«
Benton verbog die Büroklammer zu einer Acht, so als fühlte er sich nicht wohl bei dem Gedanken, ihr Gespräch auf später zu verschieben. Irgendwann würden sie reden müssen, auch wenn Worte einen Vertrauensbruch ebenso wenig heilen konnten wie einen Beinbruch. Lügen und wieder Lügen. Sein ganzes Leben drehte sich um die Notwendigkeit zu lügen, alles gut gemeint oder aus beruflichen Gründen notwendig. Und deshalb stellte Marino eine Bedrohung dar. Sein Verhältnis zu Scarpetta hatte nie auf Unwahrheiten basiert. Sein Übergriff auf sie hatte nicht Verachtung und Hass ausdrücken oder sie demütigen sollen. Marino hatte nur versucht, sich zu nehmen, wonach er sich sehnte. Und da sie es ihm nicht geben wollte, war es seine einzige Möglichkeit gewesen, die unerfüllte Liebe in sich abzutöten, die er nicht mehr ertrug. Also war der Verrat an ihr gewissermaßen ein Akt der Aufrichtigkeit.
»Wir haben auch keine Ahnung, was aus der Würgefessel geworden ist, mit der sie erdrosselt wurde«, sagte Benton. »Offenbar hat der Täter die Mordwaffe anschließend von ihrem Hals entfernt und mitgenommen. Die Polizei geht von einer weiteren Plastikfessel aus.«
»Warum?«
»Weil es merkwürdig wäre, zwei verschiedene Fesselungswerkzeuge zu ein und demselben Tatort mitzubringen«,
Weitere Kostenlose Bücher