Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaylee

Kaylee

Titel: Kaylee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Vincent
Vom Netzwerk:
antwortete Onkel Brendon sanft, und ich sah ihn überrascht an. Er hatte die Augen geschlossen und holte tief Luft, als wolle er sich für etwas Unangenehmes wappnen. Es sah fast so aus, als würde er gleich losheulen. Oder irgendetwas zu Brei schlagen. Ich tippte auf Letzteres.
    Auch Tante Val wirkte angespannt und ließ ihren Mann nicht aus den Augen. Sie erwartete offenbar, dass er etwas Bestimmtes tat. Oder auch nicht tat.
    Als Onkel Brendon die Augen wieder aufschlug, war sein Blick fest. Eindringlich. „Ich weiß, dass du dich nicht verletzen wolltest, Kaylee. Und ich weiß auch, dass du nicht verrückt bist.”
    Er klang so überzeugt, dass ich ihm beinahe glaubte. Doch meine Erleichterung schlug schnell in Misstrauen um. Würde er seine Meinung ändern, wenn ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte?
    „Gib dem hier eine Chance und versuch es, okay?” Er sah mich flehend an. Geradezu verzweifelt. „Sie können dir zeigen, wie du damit klarkommst. Wie du ruhig bleiben und es … zurückhalten kannst. Val und ich … Wir können dir dabei nicht helfen.”
    Nein! Mir schossen Tränen in die Augen, doch ich ließ mir nichts anmerken. Sie hatten tatsächlich vor, mich noch länger hier drin einzusperren!
    Onkel Brendon drückte meine Hand. „Ich möchte, dass du bei der nächsten Panikattacke in dein Zimmer gehst und dich darauf konzentrierst, nicht zu schreien. Tu, was immer nötig ist, um es zu verhindern, in Ordnung?”
    Ich war so verblüfft, dass ich ihn nur wortlos anstarren konnte. Es kostete mich alle Kraft, überhaupt zu atmen. Sie würden mich nicht nach Hause bringen.
    „Kaylee?” Onkel Brendon schien ernsthaft um mich besorgt zu sein. Und es tat mir weh, ihn so zu sehen. Offenbar hielt er mich für ziemlich instabil.
    „Ich versuch’s”, antwortete ich schließlich.
    Val und er wussten, dass meine Panikattacken meistens von einer bestimmten Person ausgelöst wurden. Bisher waren es immer Leute gewesen, die ich nicht kannte. Doch ich hatte den beiden nichts von der fürchterlichen Todesahnung erzählt, die mit der Panik einherging. Oder den seltsamen Halluzinationen, die ich im Einkaufszentrum gehabt hatte. Ich befürchtete, dass sie sich Dr. Nelsons Meinung anschließen und mich wieder ans Bett schnallen würden, wenn ich zu viele Einzelheiten preisgab. Nur dass sie die Fesseln diesmal zuschweißen würden.
    „Streng dich an”, sagte Onkel Brendon eindringlich, und selbst im funzeligen Licht der Deckenleuchte schienen seine grünen Augen intensiv zu leuchten. „Denn wenn du wieder schreist, pumpen sie dich so mit Antidepressiva und Antipsychotika voll, dass du nicht mal mehr deinen eigenen Namen weißt.”
    Antipsychotika? Hielten sie mich wirklich für verrückt?
    „Und noch was, Kaylee …” So unglaublich es auch schien, aber Tante Vals übliche Maske aus Fröhlichkeit hatte ein paar Risse bekommen. Sie wirkte blass und angestrengt, und die Falten auf ihrer Stirn traten so deutlich hervor wie sonst nie. Es war gut, dass sie sich nicht im Spiegel sehen konnte, sonst hätte sie gleich dableiben können.
    „Beim kleinsten Hinweis darauf, dass du dich selbst verletzt …” Ihr Blick ruhte an meinem wundgekratzten Hals, woraufhin ich ihn schnell mit den Händen verdeckte. „… schnallen sie dich wieder auf die Trage.” Ihre Stimme brach, sie zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich schnell die Tränen aus den Augenwinkeln, ehe die Wimperntusche verlaufen konnte. „Und keiner von uns erträgt es, dich noch einmal so zu sehen.”

5. KAPITEL
    Um vier Uhr morgens wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen. Nachdem ich eineinhalb Stunden lang an die Decke gestarrt und den Assistenten ignoriert hatte, der alle Viertelstunde hereinschneite, zog ich mich an und machte mich auf die Suche nach der Zeitschrift, die ich am Tag zuvor zu lesen angefangen hatte. Als ich in den Gemeinschaftsraum kam, sah ich Lydia auf der Couch sitzen.
    „Du bist aber früh auf”, meinte ich erstaunt und setzte mich unaufgefordert neben sie. Im Fernsehen liefen die Regionalnachrichten, doch es war niemand hier, den es interessieren konnte. Die anderen Patienten schliefen wohl noch. Genau wie die Sonne.
    Lydia musterte mich genauso wie immer: mit sanftem, unaufgeregtem Interesse und einem Hauch von Unnahbarkeit. Eine kleine Ewigkeit lang sahen wir einander in die Augen, ohne zu blinzeln. Wir schienen einen absurden kleinen Kampf auszufechten, und ich forderte sie stillschweigend dazu auf, mit mir zu reden.

Weitere Kostenlose Bücher