Kaylee
einen Bissen von ihrem angenagten Schokoriegel und redete mit vollem Mund weiter. „Spricht nicht mehr. Wenn du mich fragst, ist sie die Seltsamste von allen hier.”
Daran hatte ich berechtigte Zweifel.
„Weswegen bist du hier?” Sie musterte kurz meinen Hals, ehe sie mir in die Augen sah. „Lass mich raten. Du bist entweder manisch depressiv oder magersüchtig.”
In mir brodelte es, doch ich zwang mich, ruhig zu antworten. „Ich spreche auch nicht mehr.”
Sie starrte mich einen Moment lang wortlos an und brach dann in bellendes Gelächter aus.
„Mandy, warum suchst du dir nicht eine Beschäftigung?”, fragte plötzlich eine vertraute Stimme. Paul stand in der Tür, und in der Hand hielt er …
… meinen Koffer!
Ich sprang auf, und Paul reichte mir den Trolley. „Dachte ich mir doch, dass dich das freuen wird.”
Komischerweise freute ich mich wirklich, außerdem war ich erleichtert. Wenn ich schon eingesperrt war, dann wollte ich zumindest in meinen eigenen Klamotten Trübsal blasen. Doch als mir dämmerte, was der Koffer zu bedeuten hatte, verpuffte jegliche Begeisterung. Tante Val hatte mir die Sachen vorbeigebracht, ohne Hallo zu sagen.
Sie hatte mich wieder im Stich gelassen!
Ich trug den Koffer schnurstracks in mein Zimmer und stellte ihn neben dem Bett ab, ohne ihn aufzumachen. Paul, der mir gefolgt war, blieb im Türrahmen stehen. Ich sank aufs Bett und versuchte, nicht loszuheulen. Sollten diese Krankenhaushosen doch kratzen, so viel sie wollten, der Inhalt des Koffers interessierte mich nicht mehr.
„Sie konnte nicht bleiben”, erklärte Paul, der mir die Gefühle wohl nur allzu deutlich am Gesicht ablesen konnte. Meinen Therapeuten hätte das sicher gefreut. „Besuchszeit ist erst ab sieben.”
„Ja, klar.” Wenn sie mich hätte sehen wollen, hätte sie es geschafft, und wenn nur für ein paar Minuten. Meine Tante war für ihre Hartnäckigkeit bekannt.
„Lass dich nicht unterkriegen, okay? Ich habe es schon zu oft erlebt, dass jemand hier drin einen Knacks wegbekommen hat. Es wäre eine Schande, wenn dir dasselbe passiert.” Er beugte sich vor und suchte Blickkontakt, aber ich nickte nur und senkte den Kopf. „Deine Tante kommt heute Abend wieder, mit deinem Onkel.”
Ja, vielleicht. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie mich mit nach Hause nehmen würden. Es bedeutete rein gar nichts.
Nachdem Paul gegangen war, wuchtete ich den Koffer aufs Bett und zog den Reißverschluss auf. Ich konnte es kaum erwarten, etwas Vertrautes zu sehen, zu riechen und anzuziehen. Schon nach wenigen Stunden in Lakeside hatte ich panische Angst, mich zu verlieren. So zu werden wie die anderen, mit glasigen Augen, schlurfendem Gang und leerem Blick. Ich sehnte mich nach etwas Realem, etwas aus der Welt da draußen, damit ich nicht völlig den Bezug zu mir selbst verlor. Deshalb traf mich der Inhalt des Koffers völlig unvorbereitet.
Kein einziges Kleidungsstück darin war von mir. An den Sachen hingen noch die Preisschilder!
Ich schluckte Tränen hinunter, als ich das erstbeste Teil herauszog: Es war eine weiche, rosa Jogginghose mit breitem Bund und aufgedrucktem Blumenmuster. Vorne am Bund befanden sich zwei Löcher für die Kordel, die man entfernt hatte, damit ich mich nicht aufhängen konnte. Es gab ein passendes Oberteil und einen Haufen anderer Klamotten, die ich nie zuvor gesehen hatte. Alles teuer, bequem und perfekt aufeinander abgestimmt.
Was sollte das sein, Psychoschick vielleicht? Was war gegen meine Jeans und T-Shirts einzuwenden? Wahrscheinlich hatte Tante Val mich auf ihre ganz eigene Art nur aufmuntern wollen. Bei Sophie hätte das sicher auch funktioniert. Bei mir nicht. Und das hätte sie eigentlich wissen müssen.
Genervt schälte ich mich aus den Krankenhaussachen, warf sie achtlos in die Zimmerecke, riss eine Fünferpackung Unterhosen auf und schlüpfte in eine. Dann durchwühlte ich den Koffer nach etwas, in dem ich nicht aussehen würde wie eine biedere Hausfrau auf Hausarrest. Das Einzige, was ich finden konnte, war ein einfach geschnittener, lila Jogginganzug. Erst als ich ihn anhatte, merkte ich, dass der Stoff im Licht glitzerte.
Na prima. Eine glitzernde Irre . Bis auf die Klamotten war der Koffer leer. Keine Bücher, keine Spiele. Nicht einmal eines von Sophies nutzlosen Modemagazinen. Wütend stapfte ich auf den Flur hinaus und machte mich auf die Suche nach einer ruhigen Ecke und etwas zu lesen. Wehe, Paul oder einer der anderen Angestellten ließ
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