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Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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So viel Blut für so kleine Wunden.
    Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, sie zu untersuchen.
    Sie hatte sich für nichts die Zeit genommen, außer für die Flucht. Es war ihre Scham, und sie wurde davon gezeichnet. Vielleicht hatte irgendein dummer Teil ihres Verstandes gedacht, wenn sie
Gutes tat
– was auch immer das bedeuten sollte –, würde das etwas ändern. Und für wen, letztendlich? Sie verehrte schließlich keine der Götter. Sie mochte die Götter meistens, weil sie sich um ihren eigenen Kram kümmerten, es waren ihre Anhänger, mit denen sie manchmal Probleme hatte.
    Was sie damals nicht getan hatte, konnte sie jetzt nachholen.
    Sie kniete sich neben Jade. Jade, die Jüngere der beiden. Steffi war wie der Tag gewesen, Jade wie der Sonnenaufgang. Keine von ihnen war wie die Nacht gewesen, nicht in den Kolonien. Ihre Augen standen offen und starrten ins Leere. Groß, blau und braun. Sie waren
so jung
.
    Je länger sie starrte, desto mehr kam ihr der Falkenblick abhanden. Sie glaubte, die Farbe des Lichtes hätte sich verändert, wäre dunkler geworden, bis sie nur noch rotsah. Und sie hatte gedacht, das wäre nur eine Redensart.
    Ihr Mund war trocken, ihre Kehle ausgedörrt. Worte stauten sich hinter verschlossenen Lippen, zusammengebissenen Kiefern wie ein Rammbock. Sie wollte Severn umbringen.
    Und Severn wartete.
    Sie stand auf. Ihre Röcke legten sich über die verwundeten Körper wie ein grünes Leichentuch. Sie drehte sich zu ihm um. Sie hatte die beiden nicht berührt. Sie hätte die Dolche dazu ablegen müssen, und die erste Regel der Kolonien war es, dem Feind nie unbewaffnet gegenüberzutreten.
    Aber dieser Feind, dieser Severn, war anders.
    Er versuchte nicht einmal, zu sprechen. Alle Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen, wie Sand durch den dünnen Hals eines Stundenglases. Seine Miene schien unverändert. Er war steif, gefasst, unnatürlich. Er bewegte sich den Gang hinab auf Kaylin zu und senkte seine Klinge dabei immer weiter, bis seine Arme an seinen Seiten herabhingen.
    Er ließ diese nicht los. Das sah sie.
    Ehe sie etwas sagen konnte – und sie wusste, das sollte sie –, war er näher gekommen. Nahe genug, dass sie es leicht beenden könnte, sie konnte ihn mit ihren Klingen treffen.
    Aber er hätte sie nicht aufgehalten. Das erkannte sie deutlich. Er hatte im Turm des Falkenlords gegen sie gekämpft. Sie waren in den Findelhallen gegeneinander angetreten und davor, in den Straßen, die sie umgaben.
    Er hatte genug vom Kämpfen. Alles an ihm sagte ihr das.
    Sie wollte ihm nicht in die Augen sehen.
    Sie wollte ihren Blick nicht abwenden.
    Gefangen zwischen diesen zwei Möglichkeiten, musste sie aber keine Entscheidung treffen. Er ging an ihr vorbei – nur wenige Zentimeter von ihren zitternden Händen, ihren offenen Klingen entfernt – und kniete sich auf den eisigen Boden.
    Und dann tat er, was sie nicht getan hatte, er berührte ihre Gesichter. Er schloss ihre Augen. Er beugte sich langsam hinab, bis sein Kopf fast den Boden berührte … bis er auf einer Höhe mit ihren Gesichtern war.
    Aber er sprach kein Wort.
    Er kniete sich einfach hin und wartete.
    Und während sie ihm zusah und dabei zitterte, ging ihr auf, dass das hier kein Akt der Buße war, sondern eine Wiederholung. Er tat mit fünfundzwanzig, was er damals mit achtzehn getan hatte. Er war ihr nicht nachgelaufen. Er war geblieben.
    Fast starr vor Angst veränderte sie ihre Stellung. Ihre Röcke schwangen mit. Sie sah ihm zu, hin und her gerissen zwischen Wut und Mitleid. Zeit verging.
    Endlich löste er sich aus seiner Starre und hob sie beide auf, eine in jedem Arm. Die Körper waren jetzt schlaff und schwer. Die Todesstarre hatte noch nicht eingesetzt. Fast rief sie seinen Namen, aber dann biss sie sich doch auf die Zunge, denn er begann sie den Gang hinabzutragen.
    Sie folgte ihm, ungesehen, als wäre sie ein Geist. Und auf eine gewisse Art war sie das. Ihr Leben wendete sich hier, in diesem Moment – und mit ihrem auch Severns. Und das
sollte
es auch, bei allen Göttern, das sollte es. Die Mädchen hatten niemanden auf der ganzen Welt außer Severn und Kaylin, und Severn hatte sie aufs Übelste hintergangen.
    Sie hatte gedacht, hier, an diesem Ort, würde sie die Führung übernehmen. Aber es war wie immer Severn, der den Ton angab. Er stolperte ein- oder zweimal unter dem Gewicht der Mädchen. Ihrer Mädchen. Nur ein einziges Mal blieb er stehen, lehnte seinen Rücken gegen die Wand, zerdrückte Blätter, von

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