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Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
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fest, weil sie blutete. Der Stoff glänzte, denn das Blut rann an seinen Bahnen hinab, ehe es einsickerte. Wilde im Blutwahn waren noch eine gewisse Spur dümmer als sonst.
    Und da die Zähne nicht mit den blutenden Teilen verbunden waren – noch nicht –, war das zu ihrem Vorteil.
    Den einen Arm konnte sie nicht benutzen, aber sie hatte zwei davon, und der Wilde hatte den rechten Ärmel zu fassen bekommen. Mit etwas mehr Zeit hätte sie sich frei geschnitten. Stattdessen ließ sie den Wilden entscheiden, wie weit vorwärts sie gehen konnte. Sie hörte einfach auf, seinem Zerren zu widerstehen. Sie stürzte nach vorn, mit ihrem Dolch vor sich. Er grub sich in das Auge des Wilden, und sie legte ihr gesamtes Gewicht in den Stoß.
    Sie befreite den Dolch und hielt kurz inne, um ihn zu betrachten. Einer von Severns, länger, als sie es gewohnt war, vielleicht zwei Fingerbreit und schärfer als ihre Zunge in Bestform.
    Sie blickte auf. Severn war fertig.
    Sie standen etwa einen Meter von dem Barranilord entfernt, der sie mit Augen betrachtete, die … grau waren. Er berührte sein Schwert nicht. Er schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Aber er stand mitten im Gang.
    Severn ging an ihm vorbei, angespannt, eng an der Wand entlang. Als er sein Schwert nicht zog und sich auch sonst nicht bewegte, folgte Kaylin auf dem gleichen Weg, mit der gleichen aufmerksamen Anspannung.
    Der Barranilord begann zu verschwinden.
    Kaylin betrachtete ihr Kleid. Die Risse – und das Blut – blieben, wo sie waren. Ein langer Kratzer führte von ihrem Ellbogen zu ihrem Handgelenk, aber er war nicht tief. Sie hatte im Training schon Schlimmeres abbekommen.
    Severn runzelte die Stirn und sah sie an. Sie schüttelte den Kopf. “Ich nehme an, jetzt fangen die Prüfungen richtig an”, sagte er leise zu ihr.
    “Der Quartiermeister bringt mich um.”
    Er lachte. Es war ein wildes Lachen. “Er muss sich hinten anstellen.”
    “Man kann ja hoffen.” Kaylin fluchte, rannte zurück und holte ihre Schuhe. Ihre Füße waren leicht blau angelaufen. Sie zog die Schuhe an, schwankte und zwang sich, normal zu stehen.
    Sie begannen ihren Weg nach vorn, den Gang hinab.
    Sie war fast so weit, sich von Severn auf den Schultern tragen zu lassen und mehr Dreck unter die Fingernägel zu bekommen, als ihr etwas in der Ferne ins Auge fiel. Es lag auf dem Boden und bewegte sich nicht. Severns Falten schienen ihm in die Stirn gegraben, als er erstarrte, einen Arm ausstreckte und sie aufhielt.
    Sie sah ihn an. Sie trug immer noch seine Dolche. Er trug immer noch seine Klinge.
    “Barrani?”, fragte sie ihn.
    Er schüttelte den Kopf. “Nicht wie der letzte”, erklärte er, “keine Rüstung.”
    “Auch keine Bewegung.”
    Er nickte vorsichtig, doch sonst rührte er sich nicht. Er schien alle Handlung, alle körperliche Bewegung eingefroren zu haben. Seine Augen waren zusammengekniffen, und seine Hand – die Hand, in der er die Klinge hielt – war weiß wie die Knochen unter seiner Haut.
    Sie hob langsam den Kopf.
    “Severn”, sagte sie. Ihre Stimme war ruhig. Aber nur knapp. Das Licht schien sich zu sammeln, als wäre es, wie Severn, von unnatürlichen Kräften gehalten. Es wurde heller. Die Gänge wurden heller.
    Sie hatten sich nicht bewegt, durch das plötzlich erstrahlende Licht war dies auch nicht vonnöten: Sie konnten sehen. Sie konnten beide sehen.
    Kaylin schluckte und schloss die Augen.
    Es half nicht.
    Wie konnte es? Sie hatte mit geschlossenen Augen in ihrem Zimmer – in irgendeinem Zimmer – gelegen, viel zu lange, und sie hatte trotzdem gesehen, was jetzt vor ihr auf dem Boden lag. Es hatte ihr Leben sieben Jahre lang bestimmt.
    Es hatte auch Severns Leben bestimmt.
    Das hatte Mord so an sich.
    Sie öffnete ihre Augen wieder und begann vorwärts zu gehen. Als sie gegen Severns Arm stieß, schob sie ihn zur Seite. Er wich nur langsam zur Seite, wie ein Felsbrocken. Er sagte kein Wort.
    Sie konnte in diesen Schuhen nicht rennen. Sie versuchte es gar nicht erst. Hätte sie es getan, dann wahrscheinlich in die andere Richtung. Genau das hatte sie getan, als sie sie beim ersten Mal tot hatte daliegen sehen.
    Steffi und Jade. Die Kinder, die sie in den Straßen von Nightshade halb adoptiert hatte, eine Welt und ein Leben weit weg.
    Es waren Leichen. Das Blut war frisch, aber halb angetrocknet. Sie sah mit den nüchtern-sachlichen Augen eines Falken: Sie waren tot. Verblutet. Sie hatten beide Wunden am Hals, kurze Einschnitte, eindeutig Absicht.

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