Kaylin und das Geheimnis des Turms
denen sie sich nicht sicher war, dass er sie überhaupt bemerkte. Aber er ließ die beiden nicht los.
War es Nacht gewesen?
Komisch, dass sie sich nicht erinnern konnte. Sie folgte. Sie wollte eine von den beiden tragen. Sie wollte es anbieten. Aber ihre Zunge war wie gelähmt. Sie hätte ihre Dolche in ihre Scheiden gesteckt, aber diese trug Severn. Plötzlich war es sehr wichtig, ihn nicht zu berühren oder zu stören.
Er ging voran. Sie folgte.
Unter seinen Füßen tat sich eine Treppe auf, und er stolperte sie hinab. Es ergab keinen Sinn, dass er den Abstieg schaffte; er hätte sie einzeln tragen sollen. Er hätte daran denken müssen …
Sie schluckte. Sie hatte ihn nie gefragt, wie
er
sich fühlte. Weil es nicht wichtig gewesen war. Und auch jetzt sollte es keine Rolle spielen. Er hatte sie
ermordet
. Doch ihre Kehle zog sich eng zusammen. Sie konnte kaum atmen, weil mit jedem Atemzug auch die Tränen kommen würden.
An deiner Wahl soll man dich erkennen.
Dies war seine Wahl gewesen. Und sie hatte ihn danach verurteilt.
Während sie Severn folgte, wurde Kaylin klar, dass sie nicht erkennen konnte, was er sah. Sie hatte die Rune wahrgenommen, berührt, und diese war verschwunden; er hatte nichts von alldem gesehen. Jetzt erst bemerkte sie den Gang, die Treppen und die seltsamen Verwurzelungen, die die Decke bildeten. Aber seine merkwürdigen Bewegungen und die Art, wie er hier und da zur Seite trat, deuteten an, dass er etwas anderes sah.
Er schwankte. Hielt wieder an, lehnte sich gegen die Wand. Sie konnte sein Gesicht über der Rundung von Steffis Schultern sehen, ihr wirres und mit Blut verklebtes Haar, und Kaylin musste sich auf die Lippe beißen. Sein Gesicht … oh, sein
Gesicht
. Einen Augenblick lang konnte sie in seinen Zügen alles lesen. Sie konnte den Blick nicht abwenden.
Aber er kehrte ihr den Rücken zu, und als er sich wieder herumdrehte, sah sie nichts als Entschlossenheit. Immer vorwärts. Die Gänge nach der Treppe erstreckten sich in einem anderen Licht als jenem, das die Wände über ihnen erleuchtet hatte. Hier war es fast Mondlicht. Zeit für die Wilden. Tod in den Kolonien.
Und Severn ging weiter.
Wilde, dachte sie, würden das Blut riechen. Diese Kreaturen würden kommen; sie waren schon da gewesen.
Sie hielt ihre Dolche bereit, horchte und lauschte. Weil Severn es nicht konnte, musste sie für sie beide wachsam sein. Vielleicht weil ein Kampf Erleichterung bringen würde, griffen keine Wilden, die diesen Begräbniszug, diese Stille, störten, an.
Endlich blieb Severn stehen. Er stolperte. Seine Knie gaben nach. Er kam ungelenk auf dem Erdboden auf. Und es war Erde, kein kalter, eisiger Stein. Aber der Boden war doch hart, dachte sie. Sie berührte ihn nicht. Stattdessen bewachte sie die Mädchen, während Severn sich umdrehte.
Als er sich wieder umwandte, hatte er keine Klinge mehr in der Hand, sondern eine Schaufel. Woher sie gekommen war, wusste Kaylin nicht, dass es Magie war, bezweifelte sie nicht. Aber nichts davon erschien ihr merkwürdig. Sie sah zu, war Zeuge von seinem Schmerz und seiner Entschlossenheit.
Er begann zu graben. Stunden vergingen, oder es fühlte sich nur so an. Sie hatte keine Schaufel, um ihm zu helfen. Nur Dolche, und diese würden das irdene Bett nicht vergrößern. Nicht vertiefen oder lang genug machen, damit am Ende die zwei wertvollen Dinge darin ruhen konnten.
Sie hatte ihre Mutter nicht begraben.
Kaylins Augen füllten sich mit Tränen. Sie könnte jedem, der zusah, erzählen, dass nur Dreck in ihr Auge geflogen war. Tränen waren Schwäche. Aber sich selbst? Würde sie nicht belügen.
Nur für Severn und ihre Mädchen.
Er hob Steffi als Erste an und strich ihr das Haar aus der Stirn. Und dann
küsste
er ihre Stirn und flüsterte dabei unablässig Worte, die Kaylin nicht hören konnte. Jetzt wären Gebete von Nutzen, die sie sonst nie hören wollte.
Er legte Steffi hinab in das Grab und drehte sich dann zu Jade, die immer so schwierig gewesen war. Schwer zu lieben, schwer, ihr Vertrauen zu erlangen, unscheinbar und oft trotzig. Aber er hielt sie fester als zuvor ihre Schwester. Er küsste sie nicht auf die Stirn, weil es ihr nie sehr gefallen hatte, geküsst oder berührt zu werden.
Vorsichtig legte er sie neben Steffi ab und rückte beide behutsam so zurecht, dass sie nie allein sein mussten. Dann kniete er sich wieder hin, als hätte er alle Kraft verloren. Lange Zeit verweilte er am Rand des Grabes.
Fast länger, als Kaylin es
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