Kaylin und das Geheimnis des Turms
ertragen konnte.
Sie versuchte die Schaufel zu greifen, aber ihre Hand fuhr einfach durch den Griff hindurch. Sie versuchte es erneut, und wieder wurde sie daran erinnert, dass sie nur als Beobachter hier war. Sie konnte nicht helfen.
Es ist nicht für ihn, sagte sie sich, mit einem Gefühl, das wie Wut war, aber doch ganz anders. Es ist für die beiden. Aber niemand hörte ihr zu.
Endlich stand Severn auf. An seinen Händen klebte Blut, und an seinen Schultern, an seiner Brust, in seinem Gesicht; ihr Blut. Er schien es nicht zu merken. Er hob die Schaufel, und sie sah, dass seine Hände voller Blasen waren. Und er bemerkte es eindeutig nicht, oder es war ihm egal.
Er begann die Erde über die beiden zu schaufeln, wie eine Decke. Sie betrachtete seine Hände, den wachsenden Erdhaufen, der Steffi und Jade bedeckte, das spitze Ende der Schaufel. Alles bis auf sein Gesicht.
Und als er fertig war, setzte er sich wieder hin, die Spitze der Schaufel in die harte Erde gegraben, seine Hand auf den Griff gestützt. Er sagte nichts. Was konnte er auch sagen?
Aber schließlich stand er auf und ging auf den zuvor zurückgelegten Weg zu.
Dort stand sie.
Seine Augen weiteten sich.
Durch deine Wahl, dachte sie.
Er sah die Dolche in ihren Händen, schaute sie an. Er wartete einfach ab. Und von der Decke, die der Himmel hätte sein sollen, senkte sich die Ranke einer großen Wurzel, fiel auf den Boden und ließ sich neben die Leichen nieder. Wäre es näher am Grab gewesen, hätte Kaylin das Gewächs vor Wut zerstückelt. Selbst wenn sie die dort abgebildeten Worte erkennen konnte.
Formen veränderten sich, Schlaufen wurden andere Schlaufen und dann Buchstaben, bis sie sich in elantranische und Barraniworte verwandelten – eine nur schlecht zueinander passende Mischung aus Sprache.
Was ist jetzt dein Wille?
, stand da, wie auf einem Spruchband geschrieben.
Sie schüttelte den Kopf. “Ich weiß es nicht.”
Du weißt es. Und jetzt hast du erlebt, was du nicht gesehen hast, und noch mehr. Wie lautet deine Wahl?
Sie sagte nichts. Severn schien die Wurzel nicht zu bemerken, auch wenn er ihre Antwort auf die dort geschriebenen Zeichen gehört haben musste.
“Ich glaube”, antwortete sie leise, “er hat genug gelitten.” Worte, von denen sie sich noch vor sieben Jahren nicht hatte vorstellen können, sie jemals auszusprechen.
Severn legte die Stirn in Falten, es war der Ausdruck, der sich auf sein Gesicht stahl, wenn er sich konzentrierte.
“Du hast sie begraben”, sagte sie zu ihm.
Er nickte. Steif und gefasst, mit neutraler Miene.
“Wo?”
Er zuckte mit den Schultern. “Ist das wichtig?”
Es war an ihr, zu nicken.
“Warum? Sie sind immer noch tot. Ich habe sie umgebracht.”
“Ich will hingehen.” Das wollte sie nicht, bis zu dem Moment, in dem sie es laut gesagt hatte. Oder es war ihr nur nie klar gewesen. Jetzt aber wollte sie es. Und nur Severn konnte sie dorthin bringen.
Sie hob eine Hand und berührte sein Gesicht. Ihre Fingerspitzen fuhren an der Narbe entlang, die er sich in einem Kampf mit den Wilden zugezogen hatte, als sie beide jung gewesen waren. Er überraschte sie, als er zusammenzuckte, und sie ließ ihre Hand fallen.
Aber die Wurzel war dicker geworden, und die Schrift glühte jetzt in einem blassen, leuchtenden Blau. Die Falten auf Severns Stirn zeigten, dass er sich endlich darüber bewusst geworden war, wo sie sich tatsächlich befanden. Die Vergangenheit löste sich von ihm, aber ganz loslassen würde sie ihn nie. Das verstand Kaylin jetzt.
Sie hatte die besseren Chancen, zu entkommen.
Ja
, bestätigte die Wurzel,
die hast du. Du warst auserwählt, und du hast versagt.
“Ich konnte sie nicht retten”, flüsterte sie.
Das war nicht deine Aufgabe.
Plötzlich verstand sie und stieß einen Dolch direkt in die Worte der Wurzel. Funken stoben, als Metall auf Holz traf, aber das Holz bekam nicht einmal einen Kratzer.
“Sie
waren
meine Aufgabe!”, schrie sie wild. “Ich habe versprochen …”
Deine Aufgabe, Auserwählte, war es, das Gleichgewicht und die Macht zu bewahren. Du hast versagt. Und der andere stand in deinem Schatten. Er hat verstanden, was dir nicht gelungen ist zu verstehen.
Er hat die Last auf sich genommen. Er hat sie umgebracht. Er war nicht auserwählt, er hatte keine Macht. Er hat ertragen, was du hättest ertragen sollen, weil du nicht die Kraft hattest, zu tun, was getan werden musste.
Es hätte durch deine Hand geschehen sollen.
“Ich war noch ein
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