Kaylin und das Geheimnis des Turms
setzte sich auf seine Schultern und merkte erneut, dass Röcke wirklich bei
allem
im Weg waren. Aber selbst wenn sie mit den Jahren an Muskeln und Größe zugelegt hatte, hatte Severn es auch getan. Er stellte sich auf, ohne dass man ihm eine Anstrengung anmerkte.
Sie streckte die Hand aus und berührte die Decke. Was ihr wie Erde erschienen war, war keine, jedenfalls nicht ganz. Es war allerdings von einer Schicht Erde bedeckt. Sie fuhr mit den Händen darüber und legte die Stirn in Falten. “Severn? Ich glaube, die Decke ist aus … Wurzeln.”
“Wurzeln?”
“Pflanzenwurzeln. Einige sind kleiner als die anderen. Andere sind dicker als mein Schenkel.”
“Wurzeln wachsen normalerweise nach unten”, sagte er nach einer Pause. “Meinst du, wir sind unter der Erde?”
“Genau wie du”, bejahte sie. “Wie weit kannst du so laufen?”
“Nicht weit.”
Sie nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. Ihre Hände strichen weiter über die Oberfläche, ihre Nägel sammelten Schmutz, wie es kurze Nägel eben an sich hatten. “Lass uns diesem hier folgen”, sagte sie zu ihm, “geh ein paar Schritte vor und bleib dann stehen.”
Das tat er, und sie berührte wieder die Decke. Fand die größte der Wurzeln, versuchte, mit der Hand an ihr entlangzufahren, und trieb ihn wieder vorwärts. Sie gingen so ungefähr zwanzig Minuten, bis Kaylin “Stopp!” rief. In der einen Silbe lag so viel Nachdruck, dass es ihn fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, und sie bemerkte, wie er sofort nach seinen Messern gegriffen hatte.
“Nicht die Art von Stopp”, sagte sie, als er sein Gleichgewicht – und sie – wieder unter Kontrolle gebracht hatte. “Ich kann … irgendwas ist anders. Ich kann etwas spüren – hier eingraviert.”
“John war hier?”
“Haha.” Ihre Finger hatten Zeichen oder Rillen gefunden, die sich zu einer Schlinge drehten. Einer Reihe von Schlingen, einige groß und breit, einige klein und fein. “Ich glaube, es ist eine Schrift”, sagte sie, “aber ich kann sie nicht lesen.”
“Macht nichts”, entgegnete er, und ihre Hand senkte sich ein Stück, als er sich hinkniete. “Wir sind auf der richtigen Spur. Oder”, fügte er mit leiserer Stimme hinzu, “auf der falschen.”
“Woher …” Sie glitt schweigend von seinen Schultern und sah geradeaus.
“Nur so ein Gefühl.”
Vor ihnen im Gang stand ein Barrani. Er sah irgendwie vertraut aus, was man von jedem Barrani jeden Geschlechts sagen konnte. Er trug allerdings eine Rüstung und ein Schwert, auch wenn die Waffe in ihrer Scheide steckte.
Kaylin gefiel sein Anblick nicht.
Severn gefiel er nicht viel besser, und er mochte niemand, der schneller war als er selbst. Der Gang war zu eng, sodass es keinen Zweck hatte, die Kette seiner bevorzugten Waffe zu lösen. Aber die Klinge in seiner Hand war an der Kette befestigt, und die Kette hing tief genug, um ihr Spielraum zu geben. Oder um zu verhindern, dass Severn die Waffe verlor.
Kaylin fasste nach den Dolchen, die sie nicht mit sich führte.
Sie hätte innerhalb von etwa dreißig Sekunden eine Abhandlung über die Gefahren von Kleidern schreiben können, aber gedruckt hätte sie niemand.
Der Mann jedoch griff sie nicht an. Er bewegte sich nicht.
Er hatte sie gesehen. Es war zu dunkel, um die Farbe seiner Augen einzuschätzen. Aber er hob einen umketteten Arm und deutete zwischen sie.
“Geht zurück.”
“Äh, nein”, sagte Kaylin zu ihm.
“Lebt er?”, fragte Severn leise.
Sie zögerte. “Er ist nicht tot. Ich meine, nicht so wie die anderen.”
“Schade.”
Sie hob eine Augenbraue.
“Die waren langsamer.”
“Die haben ohne Köpfe weitergekämpft.”
“Stimmt.” Severn hatte seine Knie gebeugt, seine Füße gespreizt und seine Kampfposition eingenommen. Aber der Barrani bewegte sich nicht.
Kaylins Arme begannen zu kribbeln. Sie fluchte.
“Schlimm?”
Und nickte. “Sehr.”
“Er bewegt sich immer noch nicht.”
“Nein. Er nicht. Aber irgendwas anderes.”
Severn griff nach einem Dolch und reichte ihn an Kaylin weiter. Er nahm dabei kein Auge von dem Barrani. Er wiederholte die Geste ein zweites Mal, als Kaylin ihre Schuhe auszog. Der Boden war ein Schock für ihre Fußsohlen, es war, als stünde sie auf Eis.
Das hatte sie ein- oder zweimal im Winter getan, als ihre alten Schuhe den Geist aufgegeben hatten. Sie hatte es noch nie freiwillig getan.
Das Licht, das hinter den Schlingpflanzen verborgen war, flackerte leicht. Kaylin schlug, ohne
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