Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaylin und das Geheimnis des Turms

Kaylin und das Geheimnis des Turms

Titel: Kaylin und das Geheimnis des Turms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Sagara
Vom Netzwerk:
blutet.” Die Worte hätten ihr nicht deutlicher sagen können, was sie sich nicht zu fragen getraut hatte: Er konnte nicht sehen, was sie in der rechten Hand trug. Sie schon.
    Es war … ein Zeichen. Eine Rune. Aber sie pulsierte langsam und war so rot wie die Wut eines Drachen. Sie war heiß und kalt zugleich, mit scharfen Kanten, und aus ihren Rundungen funkelte Licht. Sie war Schmerz.
    Mehr als Schmerz. Kummer. Aber auch Freude. Frieden und Verzweiflung. Geburt und Tod und alles dazwischen. Ein kleiner Mikrokosmos, dessen Form irgendwie die ganze Welt umfasste. Automatisch bewegte sie ihre linke Hand, aber sie trug etwas Schweres darin, und hätte sie ihren Blick abwenden können, dann hätte sie es auch gesehen – und es wäre viel zu viel für sie gewesen.
    “Kaylin.” Pause. “Elianne.”
    Sie konnte ihren Blick nicht lösen. Ihre Augen schienen der Rune Form und Körper zu geben, eine Körperlichkeit, die sie nicht gehabt hatte, als sie durch die Strömungen unter der Oberfläche gereist war. Kaylin wurde klar, dass sie wartete.
    Und sie hatte keine Ahnung, worauf.
    Oder vielmehr keine Ahnung, die ihr gefiel.
    Zwei Hände. Eine Rune. Eine Entscheidung. Aber sie hatte auf dem verdammten Weg, der sie bis hierher geführt hatte, schon mehr als eine Wahl getroffen. Und sie wollte lange genug überleben, um noch mehr zu treffen.
    Severn nahm die Hand von ihrer Schulter. Die kalte Luft wehte über die Stelle, wo er sie zuvor berührt hatte. Es fühlte sich an wie jede Abwesenheit von Dingen, die für Kaylin Leben bedeuteten. Wieder wollte sie aufschreien, aber der eine Schrei war alles, was man ihr gönnte. Ihr Mund wollte sich zu nichts, was Sprache glich, öffnen lassen.
    Sie hörte aus großer Ferne, wie Stoff zerrissen wurde, und fragte sich dumpf, ob Severn endlich aufgegeben und die blöden Ärmel abgeschnitten hatte. Falls sie sich je wieder einen Tagtraum über schicke Kleider gestatten sollte, würde sie sich sofort von der Brücke über den Ablayne hinunterstürzen. Es würde nass sein und wehtun, aber es wäre viel, viel angenehmer.
    Er kam zurück. Er hatte sie nie wirklich im Stich gelassen. Selbst während der sieben Jahre, nachdem sie aus Nightshade geflohen war, hatte er sie nie verlassen. Sie hatte nur nie seinen Schatten gespürt, nie den Trost seiner Gegenwart. Das lag an den Schuldgefühlen. Ihren. Seinen.
    Er fasste sie am Handgelenk, und sie wollte ihm eine Warnung zurufen – aber sie war stumm. Sie sah allerdings, dass er einen Streifen grüner Seide in der Hand hielt. Stumme Zufriedenheit war besser als keine, und es war alles, was ihr blieb. Er wollte die Wunde verbinden.
    Die Rune war ihm im Weg. Sie hatte gedacht, die Worte fühlten sich von Blut angezogen, aber sie waren keine großen, extravaganten Blutegel, sie nahmen das Blut nicht in sich auf. Sie saßen darüber. Kaylin sah sich selbst in der Rune, als hätte diese die Form verändert und ihr einen Augenblick der Vertrautheit gewährt. Sie sah auch Elianne und hörte den fernen Klang von Steffis Stimme, spürte die tröstliche Anwesenheit von Jades stummem Misstrauen. Sie fühlte Catti dort und sah sie vor sich, rothaarig und aufmüpfig, erspähte Dock, sah den Glanz von goldenem Fell und Klauen, an denen rotes Blut klebte. Danach größere Klauen, die sich über die leontinischen legten. Sie erkannte den Kiefer eines Drachen, der sich so weit öffnete, dass er die Rune ganz verschlingen könnte.
    Ohne nachzudenken, riss sie die Rune nach oben – und entzog Severn ihre Hand, ehe er die Wunde verbunden hatte. Sie war sich nicht sicher, ob die Seide durch die Rune hindurchgegangen wäre, war sich nicht sicher, was geschehen wäre, wenn die Rune nicht länger ihre Haut, ihr Blut berührte.
    Sie hörte Schreie der Wut, des Schmerzes, der Freude und reinen Ärgers. Sie spürte die Flugfedern von Clints grauen Flügeln und dann, auf diesen Flügeln, das Gefühl von Wind hoch über der Stadt, nahe dem Streifen im Süden, den Clint sein Zuhause nannte.
    Sie vernahm die leontinischen Eide, die man ihr beigebracht hatte, und sagte sie fast auf. Näher konnte sie an Sprache nicht kommen. Etwas musste sich aus ihr herausgepresst haben, weil Severn sie wieder berührte.
    Doch ihre Augen waren groß, und sie blinzelte nicht. Sie erblickte die Kolonie Nightshade. Die Kolonie Barren. Sie hatte dort sechs dunkle Monate verbracht. Sie sah die Toten. Die Ausbildung. Die anderen Eide. Dunkel und scharf biss die Rune noch einmal in ihre Hand.

Weitere Kostenlose Bücher