Kaylin und das Geheimnis des Turms
Licht, das die Sonne nachahmte, in der Kraft und der Vielfalt seiner Farben verstärkt. Als fiele es auf eine Sache stärker als auf die Dinge daneben. Sie wollte mit Severn sprechen. Sie wollte ihn fragen, ob er das Gleiche sah.
Ihn einfach
irgendwas
fragen. Um den Klang seiner Stimme zu hören. Weil ihr dieser Klang vertraut war, sie kannte alle seine Schattierungen. Er bot ihr stattdessen Schweigen, und sein Schweigen konnte sie nie einschätzen.
Der Lord der Barrani erhob sich von seinem Sitz unter der Laube des mittigen Baumes. Er zog ein seltsames Licht hinter sich her, und seine Miene war nicht so scharf, wie sie es einst gewesen war. Es war, als stünde er in einem Nebel oder wäre selbst daraus. Kaylin wollte sich selbst ohrfeigen, sie fühlte sich, als hätte sie ein wenig zu viel getrunken.
Wenn man ein Gelage von mehreren Stunden als wenig bezeichnen konnte.
Er wendete sich zu Kaylin und Severn um, und er betrachtete sie viel zu lange. Er sprach kein Wort.
Die Frau an seiner Seite, die stille, schlanke Frau, stellte sich neben ihn und drehte sich Severn zu. Sie berührte den Arm ihres Lords, und er sah zu ihr. Ihre Augen begegneten sich. Sie hatten eine merkwürdige Farbe, die Kaylin fast unbekannt war. Blassblau. Anderseits war ihr Haar blass und fein und den Haaren der anderen Barrani so unähnlich, wie menschliche Haare es waren.
Es war die Lordgemahlin, die zuerst sprach. “Lady Kaylin”, sagte sie leise und dann: “Lord Severn.” Und sie neigte ihren Kopf. “Der Lord und die Lady des Hofes begrüßen Euch und heißen Euch in unserem Kreis willkommen. Nehmt Euren Platz ein.”
Sie sprach Hochbarrani. Sie hätte genauso gut die Sprache der Drachen verwenden können, so viel Sinn ergab die Rede. Nur dass sie wirklich sinnvoll war. Irgendwie. Politisch.
Kaylin war in Politik mindestens einmal durchgefallen, aber dieses Versagen – die vollkommene Unfähigkeit, sich an die richtigen Daten oder Namen zu erinnern – war theoretisch gewesen, beschränkt auf Kritzeleien, auf Tafeln und Papier und die müde Missbilligung eines Meisters der Gesetzeshallen.
Hier war es schlimmer. Aber hier war sie auch bereit, sich verdammt mehr anzustrengen. Sie verbeugte sich vor dem Lord des Barranihofes und dann noch tiefer vor seiner Gemahlin. Daraufhin erhob sich ein Flüstern unter den Barrani, aber es war wie das Geräusch von Wind in Blättern, man konnte seinen Ursprung nicht ausmachen.
“Ihr seid von den Hohen Hallen geprüft worden”, sagte die Gemahlin fast freundlich, “und seid zu uns zurückgekehrt.” Ihre Worte waren formell und hätten steif klingen sollen – taten sie aber nicht. Es lag eine merkwürdige Wärme in ihrer Miene, etwas, das an Verwandtschaft und Geheimnisse erinnerte. Andererseits erinnerte bei den Barrani
alles
an Geheimnisse, besonders zu den seltenen Gelegenheiten, an denen sie behaupteten, keine zu haben.
Kaylin richtete sich auf und spürte dabei jeden Flecken Dreck, der sich auf ewig in ihr Kleid gegraben hatte. Dazu kamen noch das Blut auf ihrer Hand, das Blut auf ihrer Brust und der zerfetzte halbe Ärmel. Sie zuckte fast zusammen, als sie an sich hinabsah.
Doch die Gemahlin sprach einfach weiter. “Die Barrani haben diese Wirkung auf Menschen. Selbst wenn Ihr an diesem Baum nur mit Narben bekleidet stündet, wäre Euch noch Ehre gewiss. Dass Ihr überhaupt ankommen konntet, ist eine Geschichte, die noch lange erzählt werden wird, nachdem Ihr den Weg aller Sterblichen gegangen seid.” Ihr Lächeln war nicht unfreundlich. Was an sich schon schockierend genug war.
Als wären die Worte ein Signal gewesen, waren die Barrani plötzlich aus ihrer seltsamen Lähmung befreit. Der Erste, der auf Kaylin zutrat, war der Lord der Westmarsche. Und an seiner Seite Andellen und Samaran. Sie vergaß fast zu atmen, als sie die beiden hier, vor dem ganzen Hof, sah. Der Lord des Barranihofes war sehr bestimmt gewesen, was ihre Pflichten anging. Und den Wert ihrer Leben.
Aber wenn sein Wort auch Gesetz war – und hier gab es kein anderes –, schien er doch nicht überrascht oder verärgert zu sein. Er ließ sich überhaupt nichts anmerken.
Andellen verbeugte sich vor ihr.
“Du hast gesagt, du wartest am Torbogen”, fauchte sie ihn an. Sie konnte nicht anders. Ihre Brauen, da war sie sich sicher, waren unter ihrem unordentlichen Knäuel aus schmutzigen Haaren verschwunden.
Seine Miene war ernst, aber seine Augen waren braun. Ganz braun. Er sah fast menschlich aus.
“Lady
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