Kaylin und das Geheimnis des Turms
Eine Erinnerung.
All das befand sich dort, in dieser Form, jeder kleinste Fetzen Wissen, den ihre Erinnerung so elegant in sich vereinte. Alles, was sie ausmachte.
Und sie begriff, wie sie noch nie zuvor etwas verstanden hatte, was ein Käfig war: das hier. Dieses Wort. Und es trug ihren Namen.
Nein. Noch schlimmer, es
war
ihr Name, sie hatte ihn gewählt, und er hatte ihr Blut und ihre Erlaubnis erhalten. Er würde werden, was sie war, und sie würde ihn als Narbe und Bedrohung tragen, als Verletzlichkeit und Angst, für den Rest ihres Lebens.
Sie hatte die Barrani beneidet. Jeder, der weniger schön war als die Barrani, tat das – und das waren so gut wie alle. Sie hatte ihnen ihre Ewigkeit geneidet, sie hatte ihnen ihre Falken missgönnt, ihre goldenen Wappen, die sie noch lange tragen konnten, nachdem Kaylin zu alt dafür war.
Aber jetzt war sie nicht mehr eifersüchtig.
Wahl. Wieder schloss sie die Augen. Hier war
zu viel
von ihrem Leben, und sie machte es alles noch einmal durch, in kurzen Funken, so intensiv, dass ihr davon schlecht wurde. Der Hass, den sie selbst für sich empfunden hatte, die Verachtung, der Ekel waren greller und klarer, als sie je vorher gewesen waren. Als Severn Steffi und Jade beerdigt hatte.
Sie hob ihre rechte Hand. Was sie darin hielt, hatte jetzt kein Gewicht mehr, hatte kaum noch Substanz. Die Augen geschlossen, weil offene Augen unvergleichlich schrecklicher waren, legte sie die Hand an ihre Brust. Das Wort wurde gegen einen Teil ihres Kleides gedrückt, das sie nicht zerrissen, aufgeschlitzt oder sonst wie zerstört hatte.
Jetzt blutete sie darauf. Und blutete.
Die scharfe Kante des Wortes durchschnitt ihr Kleid und ihre Haut, als wäre keines davon von Bedeutung. Sie verstand, dass es symbolisch war – aber symbolisch war etwas, das mit langen Roben und komischen Hüten zu tun hatte, mit billigem Wein und Rauchwerk, mit dummen Worten, von Leuten wiederholt, die so daran gewöhnt waren, sie herunterzuleiern, dass sie dabei allen Sinn verloren hatten.
Das hier war anders. Es war die
Wurzel
des Symbols, ein Ding, aus dem Zweige wuchsen, ganz anders als die machtlosen Wiederholungen, die vielleicht folgten. Oder selbst die mächtigen.
Sie akzeptierte diese Wahl. Akzeptierte die Ironie, die in der elantranischen Übersetzung lag. Und sie drückte die Rune in ihr Fleisch, in ihre Haut, in ihr Herz. Es war Selbstmord.
Oder Wiedergeburt.
Der Schmerz verging nur langsam, als sie ihre blutige Hand zurückzog. Sie hörte Severn fluchen. Worte.
Erste Worte.
Und sie hörte, mit den Silben vermischt, seine willkommene Sorge, seine offensichtliche Angst und noch ein Geräusch, wie Donnerschlag, dem für kurze Zeit Empfindung und Stimme gegeben wurde.
Ellariayn.
Ihr Name. Ihr
wahrer
Name.
Durch deine Wahl soll man dich kennen, dachte sie bitter. Und jetzt würde man sie durch ihre Wahl kennen, auf eine Art, auf die kein Sterblicher je gekannt werden sollte.
Severns Hände berührten ihre nassen Wangen. Seine Augen waren so dunkel wie eh und je. Seine Hände waren sanft, als sie die Tränen wegwischten.
“Du hast dich geschnitten”, sagte er ihr sanft, als wäre sie verrückt geworden oder so nahe daran, dass man nicht mehr anders mit ihr sprechen konnte.
Sie nickte. Spürte, wie sich das schwere Wort in ihr verwurzelte, wo keine anderen Halt gefunden hatten. Oder die Erlaubnis dazu. Und die Worte, die an dem hinaufund hinabgekrabbelten waren, was bereits auf ihren Armen geschrieben stand, stoppten. Sie verblassten, bis Kaylin sie nicht länger spüren konnte.
Sie sah zu Severn, streckte ihre Hand nach seiner aus. Ihre fühlte sich an wie Eis. Und war blutbeschmiert. Aber er schien es nicht zu bemerken.
Und ihre linke Hand? Sie war immer noch schwer beladen, als sie sie endlich ansah: Sie war leer. Was auch immer sie gespürt, was auch immer sie aus dem Abgrund gezogen hatte, war verschwunden.
Und auch nicht.
“Elianne”, flüsterte Severn, streichelte ihr Gesicht, holte sie zurück.
Das war einst ihr Name gewesen. Kaylin war einst ihr Name gewesen. Sie spürte beides als Worte – elantranische Worte – ohne Leben und Macht. Nein, es lag doch Macht in ihnen: Als Severn sie rief, hob sie den Kopf.
“Severn”, flüsterte sie, “was weißt du von den Namen der Barrani? Den wahren Namen?”
Er schüttelte den Kopf, zog sie näher an sich. Sie schmiegte sich an seine Brust und in seine Arme, dort fand sie Schutz. Aber nicht die Wahrheit. Sie wollte es ihm sagen.
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