Kaylin und das Geheimnis des Turms
normalerweise an Tischen schreibe.”
“Nicht an Pulten?”
“Nicht so oft.” Sie überlegte sich, ob sie ihre Erlebnisse in der Schule beschreiben sollte. Beschloss, dass es für die beiden keinen Sinn ergeben würde. “Das meiste echte Schreiben habe ich an einem großen Tisch erledigt. Mit Karten darauf.”
“Oh.”
Die zwei Barranifrauen blickten auf den See hinaus. Und dann nahm die ältere die Hand ihrer Tochter. “Bist du bereit?”, fragte sie sanft.
Ihre Tochter nickte, ohne zu zögern.
“Wartet …” setzte Kaylin an, als ihr klar wurde, was die zwei vorhatten. “Ihr könnt nicht …”
Die Lordgemahlin sah Kaylin an. “Ich bin
müde
, Kaylin. Ich sterbe. Ich weiß, was du für meinen Sohn getan hast”, fuhr sie leise fort, “aber für mich wäre es kein Gefallen.” Sie blickte voller Verbitterung hinaus auf das unruhige Wasser. “Ich bin schon viele Jahre die Lordgemahlin. Ich habe unsere Jungen an die Quelle geführt, und ich habe sie erweckt. Ich habe ihre Namen gewählt, und
jedes Mal
, wenn ich es getan habe, habe ich versucht, Namen zu wählen, die der Prüfung standhalten.” Sie zuckte resigniert mit den Schultern. “Aber ich habe bei so vielen meiner Leute versagt. Du hast den Preis dafür in der Dunkelheit unter uns gesehen. Die, denen ich Leben geschenkt habe, sind
alle
meine Kinder, und ich höre sie. Ich weiß, wie sie leiden. Ich werde es
immer
wissen”, fügte sie hinzu. “Du bringst meinen Söhnen und meiner Tochter Hoffnung. Du hast mich auf der Reise hierher unterstützt. Aber ich habe das Recht verdient, meinen Namen der Quelle zurückzugeben.”
“Aber …”
“Vielleicht werde ich mit der Zeit wiedergeboren werden, aus diesen Wassern”, ergänzte sie, “aber das kann lange dauern. Falls es jemals geschieht.”
Kaylin sah die Lady an und konnte dort keine Hilfe finden. Sie wollte schreien:
Sie ist deine Mutter!
Aber sie hatte keine Stimme dafür übrig.
Denn sie konnte kaum mit dem Wissen um Steffi und Jade leben. Müsste sie ihr Leiden und ihren Schmerz für die Ewigkeit ertragen, wäre sie wahnsinnig geworden. Der Tod wäre ihr wie eine Erlösung erschienen.
Eine Erlösung, die sie anderen nicht vorenthalten konnte.
“’Hebamme’“, sagte die Lordgemahlin zu Kaylin und benutzte das elantranische Wort, während ihre Tochter ihr wieder den Arm um die Schultern legte, “muss ein Titel von großer Ehre unter deiner Art sein.”
Sie hätte sagen sollen, wie oft diese Ehre dafür gesorgt hatte, dass ihr Gehalt einbehalten worden war, aber das wäre falsch gewesen. Sie sah die zwei durch einen Nebel. Ihre Augen waren feucht. Sie zwang sich, nicht zu weinen, weil sie den ganzen Weg gekommen war, um Zeugin zu sein, und, verdammt, das würde sie auch.
Und dann traten Lady und Lordgemahlin, Mutter und Tochter, über den Rand des Pfades und fielen hinab in die leuchtende, unruhige Quelle. Es hätte ein Platschen geben sollen oder irgendein Geräusch.
Aber es gab keines. Es gab eine einzige Welle, eine Bewegung von Linien und Kurven und Punkten, ehe die Quelle sich über beiden schloss.
Kyuthe.
Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie runzelte die Stirn und drehte sich um, aber es war niemand da außer ihr.
Ich bin noch im Kreis des Hofes
, sagte der Lord der Westmarsche mit fast sanfter Stimme zu ihr.
Wir erwarten dich jetzt. Du musst zu uns zurückkehren.
Aber die Lady …
Auch sie muss allein zurückkehren. Du hast dich deiner Prüfung gestellt. Es wurde dir gestattet. Erlaube ihr die gleiche Wahl, und das gleiche Risiko, zu versagen.
Kaylin nickte. Sie betrachtete den See noch einige Minuten länger, drehte sich dann um und ging den Pfad, den sie gemeinsam gekommen waren, allein zurück. Ohne die Last der Lordgemahlin war der Weg leicht und einfach zu gehen, und sie gelangte in den gleichen Wald, aus dem sie herausgekommen war. Sie folgte den Wegen durch die wilden Bäume, und die führten sie an den Brunnen der Lordgemahlin.
Der Weg führte danach noch weiter.
Und an seinem Ende – oder seinem Anfang – wartete der Lord der Westmarsche. Seine Augen waren leuchtend und grün.
“Es tut mir leid”, setzte sie an, als sie ihn erreicht hatte, “deine Mutter …”
Doch er legte nur eine Hand an ihre Lippen und schüttelte den Kopf. Er sah einen Augenblick zu ihr hinab, als wäre sie für diesen Augenblick ein Kind, und nur ein Kind. “Komm,
Kyuthe”
, sagte er leise. “Du hast einen Ehrenplatz an der Seite des Lords des Barranihofes.”
Er
Weitere Kostenlose Bücher