Kaylin und das Geheimnis des Turms
weder bunt noch laut.
“Wohin gehen wir?”
Doch sie hätte nicht fragen müssen, der Wald kroch auf beiden Seiten von ihnen fort und ließ sie schließlich vor einer Klippe allein. Darin befand sich eine Höhle. Keine Tür.
“Das ist nicht der Turm …”
“Der Turm hat viele Eingänge”, flüsterte die Lordgemahlin, “und keiner von ihnen ist denen verwehrt, die die Quelle gesehen haben.”
Sie gingen bis an den Eingang der Höhle.
Hier war der Boden aus flachem Stein, der von den Jahreszeiten, nicht von Händen abgetragen war. Die Lordgemahlin trat darauf, und ihre Augen schlossen sich.
Da begriff Kaylin, dass noch eine Pflicht vor ihr lag.
21. KAPITEL
K aylin trat auf die Steine, und sie begannen zu glühen, wie sie es bei der Lordgemahlin nicht getan hatten. Sie sprach nicht mit der Lordgemahlin, sprach nicht von der Reise. Wenn sie sich gefragt hatte, warum sie gerufen worden war, hatte sie jetzt ihre Antwort. Sie wollte der Lordgemahlin sagen, dass sie den Weg nicht kannte, aber sie verkniff sich die Worte. Es wäre gewesen, als würde sie einem verängstigten Vater sagen, dass sie nicht wusste, wie sie seine Frau retten sollte: Selbst wenn es die Wahrheit war, war es nicht willkommen. Es gab keinen Grund, es auszusprechen.
Dann breitete das Licht der Steine sich aus, in den Eingang der Höhle hinein, und ein Pfad wurde sichtbar, der in die Dunkelheit des steinernen Mundes führte. Kaylin nahm mehr von dem Gewicht der Lordgemahlin auf ihre Schultern – was bei ihrem Größenunterschied schwierig war – und übernahm schweigend die Führung. Sie blickte Hilfe suchend zu der Lordgemahlin, aber ihr Blick war dabei leer, er diente nicht zum Trost der Mutter, sondern der Tochter.
Sie gingen den Pfad hinab, und ihre Schritte hallten an den groben Wänden wider. Tunnelwände. “Hier ist es alt”, flüsterte Kaylin.
“So alt wie der Abgrund”, antwortete die Lordgemahlin.
Aber nicht ganz so kalt, und außerdem gab es Licht.
Sie gingen gemeinsam. Die Augen der Lordgemahlin schlossen sich wieder, und Kaylin spürte einen scharfen Stich der Panik. Das Gewicht auf ihren Schultern allerdings verschob sich nicht.
Ihr Gang auch nicht. Der Pfad glühte weiterhin, und sie folgte ihm, ohne nachzudenken.
“Werden wir nicht vermisst?”, fragte sie einmal.
“Vermisst?”
“Von den Leuten bei Hof.”
Die Lady lachte. Es war ein unbehagliches Lachen, aber nicht ohne wahre Belustigung darin. “Sie erwarten uns noch nicht zurück”, sagte sie zu Kaylin. “
Leoswuld
besteht aus zwei Teilen. Und ausnahmsweise haben sie auch noch andere Sorgen.”
“Ich dachte, Ihr müsstet das hier …”
“Allein tun. Und das muss ich auch”, antwortete die Lady. “Aber letzten Endes führt die Lordgemahlin mich, bis ich meiner Prüfung gegenüberstehe.”
“Was für eine Prüfung?”
Die Lady jedoch schüttelte nur den Kopf. “Das kann niemand sagen.”
Der Pfad führte vorwärts und dann nach unten. Kaylin folgte ihm, bis er den Abstieg begann, und blieb dann stehen. Fast wäre sie gestolpert.
Es sah aus wie ein langer Weg nach unten.
Und am Ende des Abwärts lag der Rest des Leuchtens. Es war auf seine Art so riesig, wie der Abgrund es gewesen war. Aber wo Schatten und Dunkelheit gewesen waren, die sich wie ein schmaler Fluss bewegten und sich zwischen Lücken in Steinen hindurchschlängelten, war hier … Licht. Es bewegte sich, schlug Wellen wie ein See.
Und in ihm konnte sie, trotz der Entfernung, Formen sehen, die sich bewegten. Kleine, schwarze Linien, die sich umeinanderschlangen, Muster bildeten und aufbrachen, fast ehe sie ihre Umrisse ausmachen konnte.
“Der hier spricht wohl nicht, oder?”, fragte Kaylin.
Die Lordgemahlin öffnete die Augen und sah Kaylin misstrauisch an. “Spricht?”
“Wie die Dunkelheit.”
“Er spricht”, war die geflüsterte Antwort. “Kannst du die Stimme nicht hören?”
“Ähm, nicht so richtig.”
“Bist du nicht an den See gekommen?”
“Äh, nein.”
Sie hatte auch die Aufmerksamkeit der Lady erlangt. Beide starrten sie an, als wäre sie ein besonders faszinierendes und intelligentes Gewächs, das auf jede erdenkliche Art fremdartig war.
Stimmte wohl so.
“Was
hast
du gesehen?”, fragte die Lordgemahlin.
“Einen Tisch.”
“Einen Tisch.”
“Einen großen Tisch, falls das hilft.”
Die zwei Barrani wechselten einen Blick. “Warum?”, fragte die Lordgemahlin.
“Ich weiß es nicht. Vielleicht weil … es Worte sind und ich
Weitere Kostenlose Bücher