Kaylin und das Geheimnis des Turms
zuckte mit den Schultern und lächelte schwach. “Wie immer gerade rechtzeitig zum Aufräumen.” Sie streckte ihre Hand aus und berührte sein Gesicht. Es war voller Prellungen. “Du blutest.”
Er zuckte mit den Schultern. “Ich stehe noch aufrecht.”
Ihr Lächeln wurde schwächer. Weil sie wusste, was er meinte: Viele andere taten das nicht.
Das Ritual von
Leoswuld
war eine Kombination aus Praktischem und Rituellem. Niemand, der den Blick auf den Lord der grünen Auen richtete, konnte daran zweifeln, dass der erste Teil erfüllt war. Kaylin, die den Rest des höfischen Kreises betrachtete, konnte gut glauben, dass auch der zweite bald folgen würde.
Ein verbissener Ärger lag über dem Hof und eine düstere Zufriedenheit. In den Gesichtern der Barrani lag etwas Angespanntes, Scharfes, das sie fast jung aussehen ließ. Natürlich sahen sie nie anders aus. Einzeln oder zu zweit begannen sie sich um ihre Gefallenen zu kümmern, diejenigen hochzuheben, die man heben konnte, und die zu bewegen, die nie wieder aufstehen würden.
Kaylin begann zu helfen – darin war sie schließlich gut –, aber der Lord der Westmarsche hielt sie davon ab. Sie sah ihm in die Augen. Sie waren jetzt grün, mit Flecken aus … Gold. “
Kyuthe”
, sagte er leise. Sie konnte die Spuren der Schlacht auf seiner Rüstung und seiner Tunika sehen, auch auf seiner Haut, aber in seiner Miene war nichts mehr davon zu entdecken.
Sie verzog das Gesicht. “Es tut mir leid”, setzte sie an.
Doch er legte einen Finger an ihre sich bewegenden Lippen. “Ich habe mich geirrt”, sagte er ernst.
“Irgendwann musste das mal passieren.”
Daraufhin musste er lächeln. Es war ein merkwürdiges Lächeln. Er drehte sich zu seinem Bruder und ihrem Vater um, dann wieder zu Kaylin. “Er … ist der Lord der grünen Auen”, sagte er leise zu ihr. “Aber er hat sich verändert. Was hast du getan?”
“Ich habe ihm seinen Namen gebracht”, sagte sie leise zu ihm. Und dann, noch leiser: “Den
Rest
davon.”
Der Lord der Westmarsche legte die Stirn in Falten. “Das verstehe ich nicht”, gestand er. Es war nicht die normale Stimme, die sie mit diesen Worten und den Barrani in Verbindung brachte. Normalerweise lagen darin mehr Frustration, mehr Wut und noch ein wenig leontinisches Fluchen, um es besonders deutlich zu machen.
Als hätte sie den Gedanken gehört, schloss Teela sich ihnen leise an. Ihre Augen waren auch grün, aber sie sah … müde aus. “Die Lordgemahlin wartet auf dich, Kaylin”, sagte sie, ohne eine Spur leontinischer Wut. Nur voller Ernst.
Kaylin erstarrte. “Sie ist nicht …”
“Sie wurde in der Schlacht verletzt, ja. Aber sie ist – noch – nicht von uns gegangen. Wir arbeiten daran, sie zu retten.”
“Kann ich …”
“Ich weiß es nicht.”
Kaylin schluckte und nickte. Sie sah zum Lord der Westmarsche. Seine Miene war wieder vollkommen Barrani. Aber er nickte und ließ sie gehen.
Die Lordgemahlin saß, als Kaylin sich ihrem Brunnen näherte. Sie war nicht allein, ihre Tochter saß neben ihr, einen Arm um ihre Schultern gelegt. Aber sie beide sahen Kaylin an, als sie auf sie zukam. Nicht einmal unter diesen Umständen hatte Teela es gewagt, ihr zu folgen.
Die Lordgemahlin lächelte Kaylin mit blassgrünen Augen an.
Die Augen der Lady waren dunkler, und Kaylin vermutete, sie hatte geweint. Sie tat so, als merkte sie nichts, und ausnahmsweise wurde ihre Schauspielkunst nicht infrage gestellt. Aber sie verbeugte sich vor beiden und hielt diese Stellung, bis die Lordgemahlin sie bat, sich zu erheben.
“Lady Kaylin”, sagte sie mit ruhiger Stimme. “Ihr habt …”
Kaylin hob beide Hände, wie um zu flehen.
“Ihr seid an die Quelle gegangen”, sagte die Lordgemahlin und wählte auf Kaylins Geste hin andere Worte.
Kaylin nickte fast stumm. “Ich bin an die Quelle gegangen”, fuhr sie fort. Und war überrascht, das Wort zu
hören
. Sie wiederholte es fast wie für sich selbst.
“Hier kannst du davon sprechen”, sagte die Lordgemahlin zu ihr, als wüsste sie, was Kaylin so überrascht hatte. “Ich habe sie gesehen, und sie ist das Erbe meiner Tochter. Kein so bitteres Erbe wie das meines ältesten Sohnes. Was hast du dort getan, Kaylin?”
“Ich habe den Rest seines Namens genommen”, flüsterte Kaylin.
Die Lordgemahlin schloss ihre Augen.
“Ich … manchmal nennt man mich eine Hebamme.” Kaylin war gezwungen, das elantranische Wort zu benutzen, sie hatte keine Ahnung, wie man Hebammen
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