Kaylin und das Geheimnis des Turms
auf Barrani nannte.
Die Lordgemahlin kannte das Wort nicht.
“Ich werde gerufen, wenn es Schwierigkeiten bei einer Geburt gibt”, sagte sie leise. “Wenn das Leben des Kindes in Gefahr ist oder das der Mutter. Oder beides.”
“Dann bist du zu uns gekommen, weil wir dich brauchten.” Die Lordgemahlin schloss ihre Augen. “Du wirst mir helfen, aufzustehen”, sagte sie weiter. “Du wirst mir behilflich sein. Meine Tochter wird uns begleiten.”
Die Lady bewegte ihren Arm an eine andere Stelle.
“Ich kann versuchen zu heilen …”
Aber die Lordgemahlin schüttelte den Kopf. “Noch nicht, Kaylin. Falls es eine Zeit dazu gibt, ist sie noch nicht gekommen. Ich trage den Namen meines Sohnes nicht mehr”, gestand sie leise.
“Ihr tragt den Teil, der wichtig ist”, antwortete Kaylin. Und sie meinte es ernst.
“Ich trage nur den Teil, der versagt hat”, war die bittere Antwort. Und doch lag etwas Stolz darin.
Kaylin schüttelte den Kopf. “Er hat eine Wahl getroffen”, sagte sie, “und auch sein Bruder hat eine Wahl getroffen. ‘Pflicht’ kann viele Dinge bedeuten. Was ihr damals nicht tun konntet, ist letztendlich doch getan worden.”
“Von einer Sterblichen.”
Sie schüttelte wieder den Kopf. “Vielleicht von der Zeit. Die Dunkelheit erhebt sich, hier und auch in den Kolonien. Die Magie wächst. Ich begreife die Namen der Barrani nicht, ich weiß nicht, ob ich es jemals tun werde, aber ich begreife jetzt dies – er muss Lord der Hohen Hallen sein, wenn sich die Hohen Hallen ihrer schwersten Prüfung stellen müssen. Das sollte er schon damals, und Ihr wusstet es. Oder die Hohen Hallen wussten es. Ich weiß nicht, wie die Quelle funktioniert. Ich weiß nicht.” Sie lächelte schwach und legte einen Arm um die Taille der Lordgemahlin. Die drei Frauen begannen zu gehen.
“Er brauchte einen Namen, der den Hohen Hallen Kraft gibt.
Ich
hätte niemals den ganzen tragen können. Ich glaube nicht, dass
irgendwer
das gekonnt hätte. Ihr habt getragen, was Ihr konntet. Ich habe weniger als das getragen. Was ich getragen habe, hätte ihm nicht das Leben schenken können. Manchmal brauchen wir einander.”
“Das ist nicht unsere Art”, war die leise Antwort.
“Nein. Das ist es nicht. Und meine eigentlich auch nicht. Aber … es ergibt schon einen Sinn. Hättet Ihr nicht das Gesetz gebrochen …” Hier erstarrte sie und merkte, dass der Blick der Tochter auf ihr ruhte. “Wenn Ihr seinen Namen nicht festgehalten und zurück an den Hof gebracht hättet”, fuhr sie schließlich fort, “gäbe es jetzt
niemanden
mit seinem Namen. Niemanden mit einem Namen, der in dieser Zeit die Dunkelheit aufhalten könnte und die Hallen gegen sie stärken.” Kaylin blieb stehen und zwang damit auch die beiden anderen Frauen zum Innehalten. “Ich weiß, was der Lord des Barranihofes vom Lord der Westmarsche wollte. Aber, Lordgemahlin, falls das ein Trost ist –
niemand
hätte die Gabe annehmen können. Nicht jetzt. Der Lord der Westmarsche hätte versagt, hätte er es versucht. Sein Name ist dem seines Bruders nicht gewachsen.”
“Und das weißt du, weil du beide Namen gesehen hast.” Es war keine Frage. Auch keine Drohung. Kaylin zögerte trotzdem.
“Du hast die Quelle gesehen”, sprach die Lordgemahlin ruhig weiter, während ihr Blut aus dem Mundwinkel tropfte. “Und ich? Ich habe meinen Sohn gesehen, gesund und im Besitz der Hohen Hallen. Ich habe gesehen, wie der Abgrund ihn ausgestoßen hat. Das ist mehr, als ich erwartet hatte, im Leben zu sehen. Ich bin nicht der Lord des Barranihofes.” Sie führte die Frauen an, auch wenn sie zwischen ihnen hing und ihren Schritten jede Anmut fehlte. Sie folgten ihr und trugen ihr Gewicht.
“Und ihm wird sein Bruder zur Seite stehen, mein Gemahl hatte niemanden.” Ihre Lippen waren dünn, als sie diese letzten Worte sprach.
“Aber ich dachte …”
“Wir hatten einen Bruder, ja. Er wurde getötet.”
“Vom Lord des Barranihofes.”
“Von seinem Durst nach Macht, ja. Letztendlich ist es normalerweise genau dieser Durst, der uns alle übermannt. Aber nicht immer.”
“Wenn er die Hohen Hallen wollte, wusste er …”
“Nein. Wusste er nicht.”
Sie gingen weiter. Nach einer Weile bemerkte Kaylin, dass der Boden unter ihren Füßen genau das war: Boden. Hier war kein Künstler am Werk gewesen. Es gab noch einen Weg, aber er war wild und nur aus Schritten gemacht. Hier gab es sogar Unkraut, und die Vögel, die über ihren Köpfen flogen, waren
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