Kaylin und das Geheimnis des Turms
Barraniwachen, und die waren ihr viel weniger genehm. Aber Rüstung blieb Rüstung, und auch wenn ein kindlich gebliebener Teil ihres Verstandes ihr befahl, sich umzudrehen und zurück zu Marcus zu rennen, löste der Falkenteil ihre Hände von den Dolchen und ihrer Alarmpfeife.
“Andellen?”, fragte sie, als einer der sechs Männer vortrat und ihr auf der Treppe entgegenging.
Er nickte knapp. “Wir sind Eure Begleitung für diesen Abend”, erklärte er. “Wir sollen mit Euch in die Nachtschattenburg zurückkehren.” Er hielt kurz inne. “Wir sollen hier nicht lange verweilen.”
Sie zögerte. “Hat es Schwierigkeiten gegeben?”
“So nahe an den Gesetzeshallen nicht. Aber es könnte gut Probleme geben, ehe wir die Brücke erreichen.”
“Wie große Probleme?”
“Darüber müsst ihr Euch keine Sorge machen.”
Sie schloss die Augen. “Ja”, sagte sie zu niemandem speziell, “ich gehe.”
Doch der Weg, den Andellen wählte, führte nicht zur Brücke, sondern ans Ufer des Ablayne. Kaylin begann eine Frage zu formulieren, sprach sie aber nicht aus. Sie sah ein Boot, das am Ufer festgemacht war. Sie wunderte sich darüber, dass niemand es gestohlen hatte, bis zwei weitere Barraniwachen auftauchten. Das Gefälle der Umgebung hatte sie vor neugierigen Augen verborgen.
“Die Brücke wird bewacht”, erklärte Andellen leise.
Seine Stimme hatte den gestelzten Ton der Höfe, aber in ihr lag eine Melodie. Sie liebte diesen Klang. Sie mochte ihn sicherlich lieber als das Innere eines Bootes, das schon von acht bewaffneten Barrani belastet wurde.
“Wer hält Wache?”
Andellen antwortete nicht. Als er es nicht tat, wurde Kaylin mit einem Mal klar, was an ihrem Weg so merkwürdig gewesen war: Er hatte ihre Fragen bereits zum größten Teil beantwortet. Er hatte mit ihr
geredet
.
“Ich wollte Euch danken”, sagte sie leise, als die Ruder mit der Strömung zu kämpfen begannen.
Sein Blick war so glatt und ausdruckslos wie Glas. Offensichtlich beleidigte Dankbarkeit ihn. Sein Problem.
“Ihr habt mir letzte Nacht geholfen.”
Er sagte nichts, was sie auch erwartet hatte. Aber nach einem Augenblick sah er sie an, er und ein anderer Barrani waren nicht am Rudern beteiligt. Sie beide trugen allerdings gezogene Schwerter.
“Warum tust du es?” Er hatte das formelle Barrani abgelegt, was wahrscheinlich so dicht an Elantranisch war, wie er jemals kommen würde.
Sie verstand, dass Barrani und Menschen nicht viel gemeinsam hatten, aber nicht einmal Tain hatte sie gefragt, warum.
“Warum ich den Hebammen helfe?”
Er nickte. Sein Blick begegnete ihrem, wenn er nicht gerade auf das Ufer konzentriert war.
“Wenn ich es nicht tue, sterben Menschen.”
“Menschen sterben doch immer. Fühlst du dich für ihren Tod verantwortlich?”
“Nein.” Pause. “Manchmal. Es kommt drauf an.”
“Auf was?”
“Darauf, ob ich etwas hätte tun können, um es zu verhindern.”
“Das ist dir wichtig.”
Sie zuckte mit den Schultern.
“Du hast Macht. Wolltest du mehr, würdest du
Erenne
werden.”
“Diese Art Macht will ich nicht.”
“Macht ist die einzige Garantie dafür, dass man seinen Willen bekommt. Eine andere Art gibt es nicht.”
Sie runzelte die Stirn. “Laufen viele Wetten? Darüber, ob ich
Erenne
werde?”
Sein Blick war merkwürdig; er veränderte die Form seines Gesichts. Es brauchte einen Augenblick, bis Kaylin merkte, dass der Mann fast
lächelte
. Wetten gab es überall. Jedenfalls in den Kolonien.
Das behielt sie für sich. “Wenn ich
Erenne
würde, wenn ich Lord Nightshades Gemahlin …”
“Das ist nicht dasselbe, Kaylin Neya.”
“Lass uns wenigstens so tun. Wenn ich das würde, wie würde
ich
dadurch Macht bekommen? Die Macht in Nightshade gehört
ihm
. Sie beginnt und endet mit ihm. Und er gibt nichts ab.”
“Nein. Aber er ist Barrani.”
“Es gibt keinen Vorteil.” Sie sprach wie eine aus den Kolonien.
“Es bringt Sicherheit.”
“Wenn ich Sicherheit wollte, würde ich den Falken nicht tragen.”
“Wenn du es wünschst, könnte er seinen Schutz auf jeden ausweiten, den du wählst.”
Sie schüttelte den Kopf. “Er ist Barrani”, sagte sie leise.
“Ja. Was wir uns fragen, Kaylin Neya, ist, was du bist.”
“Einfach Kaylin.”
Das Boot stieß gegen das Ufer. Der Himmel war noch nicht dunkel. Sollte Gefahr drohen, dann nicht von den Wilden.
“Ich glaube”, sagte Andellen leise, “dass du die Arkanisten verärgert hast. Das halte ich für sehr
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