Kaylin und das Geheimnis des Turms
unklug.”
“Ich habe es nicht mit Absicht getan.”
“Natürlich nicht … das tun Menschen nie. Menschen leben nie lange genug, um Folgendes zu verstehen – es ist auch eine Wahl, jemanden nicht zu beleidigen.”
8. KAPITEL
L ord Nightshade wartete auf sie, als sie – mit Übelkeit und Schwindel – in der Vorhalle ankam. Kaylin schwor sich, dass es ihr eines Tages gelingen würde, entweder durch das Fallgatter zu treten und anzukommen, wo
sie
wollte, oder sie würde das verdammte Ding einfach einschmelzen lassen.
Die Worte wichen allerdings aus ihren Gedanken, sobald sie Nightshades Blick bemerkte. Auch wenn sie, schon seit sie ein Falke war, mit Barrani zusammenlebte – und auch jeden Tag davor, als sie sich nur danach gesehnt hatte, den Falken zu tragen –, hatte sie noch nie Augen gesehen, die so klar und so kalt waren wie Nightshades. Selbst wenn sie ihre Lider schloss, waren sie noch deutlich zu erkennen.
Nicht dass sie es wollte. Nightshade hatte immer etwas an sich, das sie misstrauisch machte. Aber über die Jahre hatte sie gelernt, damit umzugehen.
“Lord Nightshade”, sagte sie und stützte sich gegen die Wand.
“Kaylin. Du siehst … müde aus.”
“
Grün
ist das Wort, nach dem du suchst”, antwortete sie auf Elantranisch.
“Das Nachtmahl steht bereit. Normalerweise würde ich darauf bestehen, dass du dich vorzeigbar herrichtest, aber ich glaube, du hast es heute bisher versäumt, etwas zu essen.”
Verdammt. Das hatte sie. “Ich hatte viel zu tun.”
“Musst du wohl, wenn dir keine bessere Entschuldigung eingefallen ist.” Er wartete unter einem Kronleuchter und schluckte dabei alles Licht, das davon ausging. Er trug Schwarz, eigentlich hätte es ihm schwerer fallen sollen.
Seine Miene war zu einem eleganten Stirnrunzeln gefroren.
Kaylins war eine bewegliche Grimasse, die kurz davor war, echten Schmerz zu zeigen. Sie stieß sich von der Wand ab – ein wenig wackelig auf den Beinen, die eigentlich nicht mehr in der Lage sein sollten, ihr Gewicht zu tragen. Oder das von irgendwem anderen.
Aber er ging nicht auf sie zu, er bot ihr keine Hand und keinen Arm an. Er wartete einfach.
Und mehr wollte sie im Augenblick auch nicht. Nur, dass er wartete. Er sollte ihr erlauben, Stärke vorzutäuschen.
“Wie geht es dem Lord der Westmarsche?”
“Ganz gut”, sagte sie und ging in einer fast geraden Linie auf ihn zu.
“Das nehme ich auch an. Es hat einige Schwierigkeiten im Arkanum gegeben.”
“Schwierigkeiten?” Sie fragte ihn nicht, woher er das wusste.
“Lord Evarrim ist ungewöhnlich geschäftig gewesen.”
“Es sind Feiertage”, versuchte sie es. Sie hatte ihn erreicht, und als sie es tat, wendete er sich dem Korridor zu.
“Es kommt nur an den seltensten Tagen vor, dass man Feuer im Arkanum sieht.”
“
Feuer?”
“Ich glaube, so nennt man diese Sache, die Holz verzehrt und dabei raucht, ja.”
Sie starrte ihm von der Seite wütend ins Gesicht. “Was war die Ursache?”
“Für den außenstehenden Betrachter nur ein missglücktes Experiment. Ich glaube, das wird auch in dem offiziellen Bericht stehen, den sie bei der Obrigkeit einreichen. Beim kaiserlichen Orden der Magier”, fügte er hinzu, als nähme er an, sie kenne das Wort nicht. Da sie es wirklich nicht tat, begnügte sie sich mit einem Zähneknirschen.
“Und für den besser eingeweihten Beobachter?”
“Ah.” Er hatte sie einen Korridor hinabgeführt, den sie bisher noch nicht gesehen hatte. Andererseits überstieg der Bau der Burg ihren Verstand und jede Beschreibung. Kaylin hatte die Ausbildung eines Falken, sie erinnerte sich immer an das, was sie gesehen hatte.
Aber an dem Korridor, durch den sie nun gingen, kam ihr nichts auch nur im Entferntesten bekannt vor. Sie fragte sich, ob das immer so bleiben würde.
“Während die Burg mir gehört, ja”, antwortete er.
“Vorsichtsmaßnahme?”
“Es sieht so aus. Aber, nein, es ist einfach eine Eigenschaft der Burg selbst. Ich verstehe sie und kann ihr folgen. Aber meine Bediensteten sehen einen anderen Weg; wenn sie ebenjenen Raum, auf den wir jetzt zuhalten, zugehen, betreten sie andere Gänge. Solltest du ohne meine Aufsicht umherwandern, findest du dich vielleicht irgendwann im Speiseraum wieder – aber der Weg dahin wäre viel weniger … praktisch.”
Er streckte eine Hand aus, um ihre Wange zu berühren. Wenigstens dachte sie das, sie konnte seine kalten Fingerspitzen auf ihrer Haut spüren, wie sie die Umrisse des tödlichen
Weitere Kostenlose Bücher