Kaylin und das Reich des Schattens
bestätigt, dass dem nicht so war. Und dann hat er gefragt, was die Zeichen auf den Leichen der toten Kinder zu bedeuten haben. Und ich, Kaylin Neya, habe ihn gefragt, wann und wo er sie gesehen hat.”
“Wir hatten alle von ihnen gehört –”
“Oh, natürlich. Aber sein Wissen war mehr als Hörensagen. Er konnte ihre Farbe beschreiben, ihre Form, wo sie anfingen und aufhörten, so genau, als trüge er sie selbst. Er hat … gezögert, diese Informationen mit mir zu teilen, und ich bin mir sicher, du verstehst, warum.
Aber schließlich hat er doch geantwortet, weil ich sonst im Gegenzug seine Fragen nicht beantwortet hätte. Er hat mir gesagt, er kennt die Zeichen … von dir. Ich hätte ihn gezwungen, mich zu dir zu bringen – aber er wäre lieber gestorben. Und meine Macht, meine Anwesenheit hier, ist bekannt. Wenn jemand mit gleicher Macht mich beobachtet hätte, hätte ich sie zu dir geführt. Ich war allerdings nicht damit zufrieden. Ich habe mir überlegt, ihn umzubringen”, fügte er leise hinzu, “und mich dann dagegen entschieden.”
“Ich wünschte, du hättest es getan”, sagte sie bitter.
“Tust du das? Tust du das wirklich?”
“Ich habe versucht –”
“Kaylin, mein Name verbindet uns. Du kannst
mich
nicht belügen, auch wenn du dir selbst etwas vormachen kannst. Du hast nie wirklich versucht, Severn umzubringen. Du hast deine Wut an ihm ausgelassen, und du hast ihn verletzt. Du hast andere glauben lassen, dass du seinen Tod willst. Aber ich kenne dich jetzt. Hättest du seinen Tod gewollt,
wäre
er tot.”
Es gab nichts, was sie daraufhin sagen konnte. Und das war verdammt schwer.
“Ich … interessierte mich für dich. Das gestehe ich. Es ist ein Interesse, das mit der Zeit gewachsen ist, und ich gestehe auch, dass ich alt genug bin, um nur noch an wenigen Dingen Interesse zu zeigen. Hätte ich damals gewusst, wie nahe du bist –” Er schüttelte seinen Kopf, und sein Lächeln war dünn. “Aber ich habe ihn gefragt, ob ihm die Namen der Toten etwas bedeuteten.
Ich kannte sie alle”, fügte er leise hinzu. “Ich habe eine Liste geführt. Von allen. Er war ein unauffälliger Junge. Fast ein Mann – an der Grenze zu der Tat, die ihn prägen würde. Er musste nicht antworten. Worte sind oft nur eine Hürde, ein Vorhang, der, egal, zu welcher Richtung er gezogen wird, nicht ändert, was das Fenster zeigt.
Er kannte sie. Was natürlich heißt, dass du sie auch kanntest.”
“Und du – du hast gedacht, jemand mit deiner Macht –” Ihre Gedanken holten ihre Worte ein. “Du hast gedacht, du wüsstest, wer dafür verantwortlich war.”
Sie wollte wegrennen. Es war ein schrecklicher Impuls, und sie war auf den Beinen, ehe sie ihn überhaupt benennen konnte.
Doch er folgte ihr, der Kelch in seiner Hand fiel zu Boden, und sein Inhalt verteilte sich in einer dunklen Lache unter und auf ihren Füßen. “Vielleicht. Aber ich kann mich geirrt haben, und selbst wenn nicht, war ich nicht bereit, mich ihm zu stellen.” Seine Hand lag auf ihrem Handgelenk – dem in der Schiene – und er fluchte zum ersten Mal, als zwischen ihnen ein Licht aufflammte.
Dem Geruch nach verbranntem Fleisch nach zu urteilen, machte er ihr nicht nur etwas vor.
Als sie ihm jedoch ins Gesicht sah, war es glatt und ausdruckslos, und das wütende barranische Wort – ein Wort, das sie tatsächlich nicht kannte – schien seine Lippen nie verlassen zu haben. “In den Langen Hallen wird nicht gerannt”, sagte er sanft. “Sie verändern sich, und das oft plötzlich. Mehr als ein Besucher hat sich in ihren Mauern verlaufen, und ich will nicht, dass du zu einem von ihnen wirst.”
Ihre Beine zitterten. Sie redete sich ein, dass es am Schlafmangel lag, und am wenigen Essen. Aber sie setzte sich nur deshalb steif hin, weil sie wusste, dass er sonst nicht fortfahren würde.
“Ich verstehe die Zeichen, die du trägst, selbst nicht vollkommen. Ich würde sie untersuchen, aber das bereitet dir Unbehagen, und ich kann warten. Du trägst jetzt mein Zeichen, und du trägst meinen Namen in dir. Selbst wenn du die Wahrheit nicht akzeptieren willst – und darin bist du sehr gut –, bist du ein
Teil
von mir.”
“Aber etwas hast du schon verstanden”, sagte sie mit trockenem Mund. Sie wollte das Thema wechseln. Unglücklicherweise gab es kein Thema, bei dem sie sich sicher fühlen konnte. Small Talk hatte in diesen Hallen und vor diesem Lord keinen Platz.
“Ja, Kaylin Neya. Nachdem ich mit deinem Severn
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