Kaylin und das Reich des Schattens
ihn mit offenem Mund anstarrte, redeten die beiden weiter.
Teela wendete sich an Tain. “Lord Evarrim hat versucht, das Zeichen zu berühren. Das hat bei den Kaufleuten für ein schönes Feuerwerk gesorgt. Ich hätte es da schon wissen müssen. Aber ich musste mich darum kümmern, dass unser Maskottchen es lebendig aus der Halle schafft.”
Kaylin sträubte sich etwas. Maskottchen war sie seit ihrem fünfzehnten Geburtstag nicht mehr genannt worden – nicht, nachdem sie einen Krug Bier über Tanners Kopf ausgeleert hatte.
“Du hast Evarrim nicht gesehen”, sagte Teela und ließ den Ehrentitel dabei fallen wie ein Stück Abfall, “was Nightshade will, muss für ihn interessant sein.”
“Warum ist Nightshade eigentlich ausgestoßen?”
Die beiden verfielen in eisernes Schweigen.
“Geh und befass dich mit Marcus, Kaylin. Tain und ich haben einiges zu besprechen.”
“Passiert mir das jetzt mit
jedem
Barrani hier?”
“So ziemlich.”
Kaylin borgte sich den leontinischen Ausdruck, den Tain zuletzt verwendet hatte. Aber sie öffnete die Tür und machte sich auf die Suche nach Marcus.
Stattdessen fand sie Severn.
Er stand neben einem der offenen Schreibtische – Papiersammelstelle, wie er liebevoll von jedem genannt wurde, der keine Zeit damit verbringen musste – und plauderte mit Caitlin. Kaylin war überrascht, wie sehr sie das nervte. Sie vergaß dabei, sich unwohl zu fühlen. Das lag an ihrer Besitzgier, nicht ihre beste Charaktereigenschaft, aber sie hatte es noch nicht ganz geschafft, sie abzulegen.
Caitlin sah sie zuerst – aber sie war sich sicher, dass Severn sich ihrer bewusst war, noch ehe Caitlin aufsah. “Ich hoffe, gestern ist mit Marcus alles gut gegangen, Liebes. Er hatte in letzter Zeit eine Affenlaune.”
Kaylin hatte den Ausdruck immer sehr lustig gefunden, wenn es um Marcus ging. Jetzt fand sie ihn viel weniger lustig, und dass nur, weil Severn so nahe war.
“Es war in Ordnung”, sagte sie.
“Habe ich schon gesagt, wie sehr mir deine Tätowierung gefällt? Ich hätte nicht gedacht, dass du so etwas trägst – viel zu fein, zum einen – aber irgendwie passt sie zu dir.”
Konnte der Tag noch merkwürdiger werden? “Danke”, presste sie heraus. “Ich dachte, du hast dich abgemeldet?”, fügte sie hinzu, ohne Severn anzusehen.
Er starrte sie an, als wären Worte zu schmerzhaft.
Darin war sie über die Jahre gut geworden.
“Ich bin gekommen, um mit Lord Grammayre zu sprechen”, sagte er schließlich. “Aber er ist in einer Besprechung.”
“Er will dich aber doch sehen”, versicherte Caitlin Severn und tätschelte seinen Arm. Als bräuchte er so etwas. “Er sollte in einer halben Stunde fertig sein.”
Severn dankte ihr höflich.
Kaylin wollte ihm sagen, sich das an den Hut zu stecken, aber sie wollte Caitlins Gefühle nicht verletzen, oder, noch schlimmer, ihr Sorge bereiten. Sie sagte nichts.
Ein sehr lautes Nichts.
“Willst du noch was, oder warum stehst du hier rum?”
Es ist mein verdammtes Büro? Das hier sind meine Freunde?
Sie zuckte mit den Schultern, statt zu sprechen. “Weiß nicht. Hat die Besprechung irgendetwas mit mir zu tun?”
Severn zuckte mit den Schultern. “Vielleicht.”
“Dann ja.”
Sein Lächeln war dünn, aber es war da.
Auf einmal wollte sie mit ihm reden. Es war ein plötzlicher, dummer Impuls. Sie wollte ihn nach all den Warums fragen, die sie in den Kolonien nicht gefragt hatte. Sie wollte sein Wort, dass sie ihn nie wieder fragen musste. Das plötzliche Bedürfnis ließ sie erstarren.
Und er wusste es. Er hatte immer gewusst, was das Beste für sie war.
Aber er ging von ihr fort, auf die Tore des Turmes zu. Er sah sich nicht um. Sie hatte nicht den Mut, ihm nachzurufen.
Der Falkenlord schon. Oder vielmehr hatte er die Macht,
sie
zu rufen. Sie saß auf Marcus’ Schreibtisch und plauderte mit Caitlin über deren jüngste Tochter, als der kleine Spiegel sich meldete.
“Ich hasse die Dinger”, sagte sie.
Caitlin verzog das Gesicht. “Nicht halb so sehr wie ich.” Wahrscheinlich stimmte das. “Lord Grammayre will dich sprechen”, fügte sie hinzu.
“War ja klar. Hat er gesagt, worum es geht?”
“Er hat keine Worte benutzt, Liebes. Aber wenigstens ist er nicht oben auf dem Turm, das ist doch etwas. Er ist in seinem Büro”, fügte sie noch hinzu.
Kaylin sprang von Eisenbeißers Tisch und ging die Treppe hinauf.
Das Büro des Falkenlords war nur halb so groß wie der Bereich, über den Marcus
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