Kaylin und das Reich des Schattens
herrschte, aber auch nur ein Zehntel so voll, und im Moment bis auf den Mann am Schreibtisch direkt neben der Tür vollkommen leer. Die äußere Tür war, im Gegensatz zu den Türen im Turm, nicht einmal von der einfachsten Magie geschützt. Sie war breit und machte ein lautes Geräusch, wenn man sie aufstieß – und im Gegensatz zu den magisch geölten Monstern in den Gesetzeshallen musste man sie tatsächlich stoßen.
Kaylin machte sich nicht die Mühe, zu klopfen.
“Hi, Hanson.”
Hanson, ein Mann näher an fünfzig als an vierzig, sah von seinem Schreibtisch hoch, als hätte sie nicht schon das Quietschen der Tür angekündigt. Er lächelte und lehnte sich nach rechts, um sie besser sehen zu könne. Sein Schreibtisch sah aus wie eine verwüstete Bibliothek. Aber das tat er immer. “Er ist gerade reingekommen”, sagte er zu ihr und legte eine flache Hand auf einen schwankenden Haufen Bücher, deren Rücken sie nicht einmal lesen konnte. “Aber er ist nicht allein.”
“Hat er schlechte Laune?”
“Schwer zu sagen. Er ist gerade aus einer Besprechung mit den anderen Gesetzeslords gekommen, falls das hilft.”
“Tut es”, sagte sie mit fallenden Schultern, “und auch wieder nicht. Trotzdem danke.”
“Kaylin”, sagte der Falkenlord, als sie sein Büro betrat, “als ich dich das letzte Mal habe kommen lassen, während Severn sich noch in meiner Gegenwart befand, hast du dich mehr als unpassend verhalten. Ich vertraue darauf, dass dir der gleiche Fehler nicht noch einmal unterläuft?” Er saß auf einem aerianischen Hocker; die Aerianer mochten Rückenlehnen nicht sonderlich, und das aus guten Grund. Es war eine der subtilen Arten, mit denen die hochkastigen Barrani sie beleidigen konnten – sie benutzten einfach die edelsten Throne, um ihre geflügelten Gäste zu unterhalten.
Nicht, dass sie bei so etwas schon einmal dabei gewesen wäre, aber Clint hatte an die hundert Geschichten aus seinen Jahren bei der Wache des Falkenlords, und er erzählte sie gern.
“Gefreite Neya?”
“Nein, Sir.”
“Gut. Dann tritt bitte ein.” Ihm stand die Liebe der Falken für Papierkram ins Gesicht geschrieben, aber im Gegensatz zu Marcus erledigte er seinen tatsächlich. Er nahm auch an allen Besprechungen teil, unter denen sein Name stand, und er fluchte nie vor seinen Vorgesetzten. Nicht, dass er davon noch viele hätte.
Sie betrat den Raum langsam, als ob jede Bodendiele eine Falle wäre.
“Ich muss dir eine Frage stellen, Kaylin.”
Immer, wenn er ihren Namen so oft benutzte, sah es schlecht aus. Andererseits war keines ihrer Gespräche mit dem Falkenlord in letzter Zeit gut verlaufen. Aus irgendeinem Grund vermisste sie die guten. Er war nicht immer so streng und nicht immer so abweisend, wie dieser Fall ihn gemacht hatte.
Aber er kannte den Wert von Distanz, und sosehr sie es auch hasste, er war sich nicht zu schade, sie zu benutzen.
“Ja, Sir?”
“Wo ist deine Armschiene?”
Sie erstarrte und sah schuldbewusst hinab auf ihr freies Handgelenk. Dann sah sie wieder auf und den Falkenlord an.
“Ich dachte, ich hätte dir einen
ausdrücklichen
Befehl erteilt. Im Gegensatz zu der allgemeinen Meinung in den Rängen ist ein Befehl keine Bitte.” Er legte eine Hand an seine Stirn und schloss die Augen. Alles sprach dafür, dass er mit mörderischen Kopfschmerzen zu kämpfen hatte. “Natürlich ist mir auch bewusst, dass Marrin gerufen hat, und das dringlich, und im Augenblick bin ich damit einverstanden – wenn auch nur zögernd –, dich nicht wegen Befehlsverweigerung aufzuschreiben. Wo hast du sie gelassen?”
Sie atmete tief durch. “Zu Hause.”
“Wessen Zuhause?”
Sie runzelte die Stirn. “Meinem, jedenfalls war es das, als ich das letzte Mal nachgesehen habe. Na ja. Meins und das der Kakerlaken. Und der Mäuse.”
Der Falkenlord drehte sich zu Severn um, der die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben hatte. Er war so still gewesen, dass sie im Angesicht des Falkenlords fast vergessen konnte, dass er da war. “Severn, bitte.”
Und Severn fasste in seinen Beutel und zog die Armschiene heraus. Sie starrte sie an. “Woher hast du – warst du in meinem –”
“Nein, Kaylin, war er nicht”, antwortete der Falkenlord. “Er
behauptet
, du hättest sie bei ihm gelassen.”
Er hatte sie gedeckt. Oder es wenigstens versucht, offensichtlich war er den Falkenlord noch nicht gewohnt, wenn er so dumm sein konnte. Es hätte ihr mehr bedeutet, wäre sie nicht an der Frage hängen
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