Kaylin und das Reich des Schattens
geblieben, wie die Armschiene überhaupt in seine Finger gelangt war.
“Severn”, sagte der Falkenlord leise, ohne den Blick von Kaylin zu wenden, “ich weiß nicht, wie der Lord der Wölfe auf die Verdrehung von Tatsachen reagiert. Ich allerdings finde sie inakzeptabel bei jedem Mann, der behauptet,
mir
zu dienen. Ist das klar?”
Severn sagte nichts.
“Gib Kaylin die Armschiene”, fügte er hinzu.
Severn gab sie ihr. Er war näher, als es schien.
“Wie hast du sie bekommen?”, fragte sie ihn leise.
“Sie war bei mir.”
“Aber ich habe sie bei dir gar nicht umgehabt.”
“Nein”, sagte der Falkenlord, “das hast du nicht.”
Sie beide sahen den Mann, dem sie die Treue geschworen hatten, an.
“Ich habe dir schon einmal gesagt, Kaylin, dass es sich um ein altes Artefakt handelt, das wir selbst nicht völlig verstehen.”
Sie zögerte. “Wie alt?”, fragte sie dann.
“Alt”, antwortete er leise. “Der Drachenkaiser hat die Schiene bei Elantras Gründung in der Stadt gefunden. Sie ist nicht gezeichnet, wie so viele Artefakte der Alten es sind – aber wir glauben, dass es sich um ihre Arbeit handelt. Das darfst du mit
niemandem
besprechen. Ist das klar?”
Sie nickte.
“Es gibt einen Grund, dass sie – im Gegensatz zu allen anderen Dingen, mit denen der Quartiermeister dich ausgestattet hat – trotz deiner besten Bemühungen nie beschädigt worden oder verloren gegangen ist.”
Und wartete ab.
“Aber in der Vergangenheit ist sie immer zu
mir
zurückgekehrt.” Er sah Severn lange an. “Es scheint, Severn, als wärest du als ihr neuer Bewahrer auserwählt worden.”
Kaylin berührte die Edelsteine in der richtigen Reihenfolge, während Severn ihr dabei zusah. Sie hätte ihm den Rücken zugewendet, aber sie spürte, dass sie ihm das schuldig war. Er hatte gelogen, um sie zu beschützen.
Oh, es war gefährlich, dass er hier war. Dass er einer der Falken war. Die Vergangenheit war scharf, bitter – aber die Gegenwart war so eindringlich, dass alle Erinnerungen ins Wanken gerieten.
“Das ist nicht nur Rüstung.” Severns Art, eine Frage zu stellen.
Sie schüttelte en Kopf. “Nein”, sagte sie, “ist es nicht.” Die Schiene schnappte auf, nachdem sie den Code eingegeben hatte.
Er hob die Augenbrauen kaum merklich. “Da sind keine Scharniere.”
“Keine, die wir sehen können, nein. Aber ja, sie geht auf. Frag mich jetzt nicht.” Sie knöpfte ihren Ärmel auf, hob ihren Arm, und ließ den Stoff langsam bis auf den Ellenbogen zurückfallen. Der Falkenlord sah zu, wie sie die Schiene um ihren Unterarm schloss. Die Lichter tanzten ihren gewöhnlichen Tanz und verloschen dann.
“Es soll deine Gabe einschränken”, sagte Severn leise.
Sie nickte.
“Warum?”
“Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie es –”
“Warum muss deine Gabe eingeschränkt werden?”
Sie zögerte.
“Kaylin – als wir in den Kolonien waren, war alles, was du konntest, heilen. Und das ist nicht gerade lebensbedrohlich. Was hat sich verändert?”
“Alles”, sagte sie knapp, und das eine Wort wog schwer. In ihm lag eine Anklage, die sie nicht verhindern konnte.
“Es ist nicht nötig, dass du diese Information erhältst, Severn”, sagte der Falkenlord leise.
Sie sah, wie Severns Gesicht sich verschloss. Sein Gesicht war fast barranisch, als er sich dem Falkenlord zuwendete. “Welche Bedingungen muss man erfüllen, um der Bewahrer dieser … Fessel zu sein?”
Kaylin zuckte zusammen. “
Ich
nenne sie so”, sagte sie. “Normalerweise sagt man etwas anderes.”
“Normalerweise”, sagte der Falkenlord zu ihnen beiden, “nennt man es überhaupt nicht.”
Severn nickte.
“Was deine Frage angeht, vielleicht bekommst du eine befriedigendere Antwort, wenn du sie Tiamaris stellst. Ich bin mir bis jetzt selbst … nicht sicher.” Und das gefiel ihm ganz und gar nicht, jedenfalls schien es Kaylin so. “Tiamaris ist immer noch im Turm”, fügte er hinzu und sah hinab auf die Papiere auf seinem Schreibtisch.
“Komm”, sagte sie zu Severn. “Das war ein Rausschmiss.”
“Es war eine Entlassung, Kaylin.”
“Ja, Sir.”
Der Drache wartete. Das hatte sie in irgendeiner Geschichte gelesen, in den Monaten und Jahren, in denen man sie gezwungen hatte, in den zweieinhalb Sprachen, die sie beherrschte, Lesen zu lernen.
Allerdings war dieser hier nicht vierzig Fuß lang, und er hatte auch keine Schuppen, wegen denen es sich zu töten lohnte. Oder, wie so oft, zu sterben. “Der
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