Kebabweihnacht
die mit dem Essen auf sie warteten. Aber er selbst wusste nicht genau, wie sich das anfühlen würde. Würde man sich frei fühlen, ganz frei, oder nur einsam? Würde er seine Eltern vermissen oder seine Schwester? Vielleicht die Mama, dachte er, die Hexe Ayla würde er bestimmt |56| nicht vermissen, und seinen ewig tadelnden Vater auch nicht. Es war schon komisch, wie er immer behauptete, dass dieses Leben hier auf Erden nur die Probe sei für das wahre Leben, das einen nach dem Tode erwartete, und dann sich permanent in die irdischen Dinge einmischte. Dafür, dass dieses Leben nicht das richtige war, interessierte es seinen Alten unheimlich. Er musste kichern. Vor allem die sehr irdischen Dinge interessierten ihn über die Maßen: Vergnügen, Sex, Spaß. All das war zwar verboten und Teufelswerk, aber gerade deswegen stand es im Mittelpunkt all seines Denkens.
Bei Tisch erzählte Ayla von einer türkischen Studentin, die von zu Hause ausgezogen war. Sie versuchte ihre Stimme dabei neutral zu halten, so dass man nicht verstehen sollte, ob sie das guthieß oder verdammte, aber Umut war klar, dass sie damit die Lage sondierte.
Deswegen konnte sie, als der Vater dieses Verhalten mit Abscheu zurückwies, sofort auf die Stimmung reagieren, indem sie ihrem Vater beipflichtete. »Es ist doch klar, wofür sie ein eigenes Zimmer braucht«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme. »Ihr geht es doch darum, unmoralische Dinge auszuleben. Wenn ein Mädchen vor ihren Eltern nichts zu verbergen hat, warum sollte sie dann ausziehen wollen?«
Der Vater schaute sie stolz an: »So ist es, meine Tochter, ein Mädchen zieht aus dem Hause ihres Vaters aus, um in das Haus ihres Ehemannes einzuziehen!«
|57| Umut musste sich ein Grinsen verkneifen. Seine Schwester lebte ihre unmoralischen Dinge schlauerweise am Nachmittag aus. Er wusste ganz genau, dass Ayla Männerbekanntschaften hatte, aber im Gegensatz zu den meisten türkischen Jungs ließ ihn das Sexualleben seiner Schwester kalt. Nie im Leben wäre er auf den Gedanken gekommen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Oder freute er sich sogar ein wenig darüber, dass sie den Vater an der Nase herumführte?
»Wohnt sie allein oder in einer Wohngemeinschaft?«, fragte er interessiert.
»In einer WG. Sie sagt, so kommt es billiger, aber wenn du mich fragst, ist so eine WG ein Sündenpfuhl!«
Die Eltern, die nicht wussten, was eine WG ist, fragten nach. Das Bild, das Ayla von der Wohngemeinschaft ihrer Kommilitonin zeichnete, entsprach eher dem der Kommune eins.
»Bei mir in der Ausbildung wohnen auch einige in einer Wohngemeinschaft«, entgegnete Umut, »und was sie erzählen, klingt ganz anders. Da geht es nicht Tag und Nacht um Sex, da geht es eher darum, wer die Küche saubermacht.«
»Wahrscheinlich ist das das Mittel, mit dem man junge Mädchen verführt, in einer Wohngemeinschaft zu leben!«, sagte der Vater.
»Womit verführt man die jungen Mädchen?«, fragte Umut. »Mit dem Saubermachen der Küche?«
»Du hast keine Ahnung!« Sein Vater hob jetzt die |58| Stimme so, wie es Umut kannte. »Du bist dumm und naiv, halt dich von diesen Leuten fern, denn sie werden versuchen, auch dich zu verführen!«
»Mich?« Umut wurde jetzt auch lauter. »Wieso mich? Ich bin doch kein Mädchen, oder?«
»Das nicht, aber du bist ein hübscher Junge. Für solche Leute ist es das Gleiche!«
Umut war ganz bleich geworden. Diese Verachtung aus den Worten seines Vaters! Nicht nur gegen ihn, sondern gegen alle, die nicht so waren wie er.
Er biss die Zähne zusammen, und als er vom Tisch aufstand, war er fest entschlossen.
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I RGENDWIE WAR DANN alles ganz schnell gegangen. Die Wut, die sein Vater mit seinen Worten über die Wohngemeinschaften ausgelöst hatte, hatte ihn zum Handeln getrieben. Alex, einer seiner Kumpels, der auch in einer WG wohnte, hatte beiläufig erzählt, dass bei ihnen ein Zimmer frei werden würde und dass sie jemanden suchten.
Am Tag nach dem Gespräch ging Umut schnurstracks auf Alex zu: »Wann wird denn das Zimmer bei euch frei?«
Alex schaute überrascht auf. »Es ist sehr kurzfristig, schon zum 1. Dezember. Deswegen finden wir ja auch niemanden so kurz vor Weihnachten.«
»Doch, mich!«
»Was? Du willst das Zimmer für dich?«
»Warum fragst du so doof? Willst du nicht, dass ich bei euch einziehe?«
»Doch schon, natürlich, aber ich hätte nie gedacht, dass du zu Hause ausziehst!«
»Warum nicht? Weil ich Türke bin?«
Alex wand sich. »Nein, doch, ich meine,
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