Keeva McCullen 4 - Tödliche Fesseln (German Edition)
anderen Möglichkeit umsehen müssen, um im Bedarfsfall für Ablenkung zu sorgen.
Schnaubend drehte er sich um und verließ das Gewölbe. Beim Hinausgehen bemerkte er an der einen Mauerwand eine Bewegung. Eine große Spinne krabbelte dort über die Ziegel.
Liekk-Baoths Augen leuchteten auf und er hielt ihr die geöffnete Hand hin. Zutraulich kroch das Tier auf seine Handfläche, er umschloss es sanft mit den Fingern und setzte es schließlich auf seine Schulter, wo die Spinne wie selbstverständlich sitzenblieb.
„Komm mit, meine kleine Schönheit“, flüsterte er. „Für dich habe ich eine ganz besondere Aufgabe...“
*
Das Gefühlsspektrum der Spinne war bis jetzt auf nur wenige, eher elementare Regungen beschränkt gewesen. Sie hatte Hunger verspürt, Lust auf die Jagd, das Bedürfnis, sich zu paaren, den Drang zu fliehen oder zu kämpfen.
Doch heute, da sie das unvorstellbare Glück gehabt hatte, einem Spinnenmeister begegnet zu sein, war das kleine Tier kurz vor dem Überschnappen. Noch immer konnte sie kaum fassen, dass ihr dieses Privileg zuteil geworden war.
Der Meister hatte sie auf seiner Schulter in ein für sie bislang völlig unbekanntes Stadtgebiet getragen. Sie waren durch nachtdunkle Straßen gegangen, hatten einen Park durchquert und waren schließlich hier, in ihrem neuen Zuhause gelandet.
Es handelte sich um einen Abschnitt des Abwassernetzes, zusammengesetzt aus unzähligen, unterschiedlich großen Tunnelröhren – manche maßen nur wenige Zentimeter im Durchmesser, andere wiederum waren so hoch, dass ihre obere Deckenwölbung im Dunkeln verschwand.
Der Meister hatte für sie einen besonders schönen Teil dieses unterirdischen Systems ausgesucht. Er befand sich in einem recht zentralen Bereich – viele kleine und mittelgroße Tunnel trafen hier zusammen – und war sowohl trocken als auch dunkel genug, damit sie gut auf der Lauer liegen konnte. Sie gehörte zu einer Spinnenart, die zwar Netze webte, die direkte Jagdmethode jedoch meist bevorzugte. Daher gefiel ihr diese finstere, kellerartige Umgebung außerordentlich gut.
Der Meister hatte ihr zum Abschied sanft über den Rücken gestrichen und dabei einige geheimnisvoll klingende Worte gemurmelt, die ihr einen eigenartigen Schauder durch den Leib gejagt hatten. Dann hatte er sich umgedreht und war einfach gegangen, ohne sich noch weiter mit ihr zu befassen.
Sie hatte ihm lange hinterher geblickt, doch durch den langen Weg hierher war sie hungrig geworden. Und so hatte sie sich schließlich auf die Suche nach etwas zu Fressen gemacht und vagabundierte nun neugierig durch ihr neues Reich.
Futter gab es reichlich, überall stieß sie auf andere Insekten, die sie fangen und fressen konnte. Eifrig tat sie das auch, stellte jedoch recht bald fest, dass sie nicht in der Lage war, ihren Hunger zu stillen. Im Gegenteil: je mehr sie vertilgte, umso stärker nagte er in ihr - und umso größer wurde ihr Verlangen nach einem weiteren Leckerbissen.
Außerdem schien sie irgendwie zu wachsen. Die Vermutung wurde zur Gewissheit, als sie sich binnen weniger Stunden bereits zum zweiten Mal häutete. Für einen kurzen Moment beunruhigte sie diese Erkenntnis - doch dann siegte die Gier und sie konzentrierte sich weiter auf die Jagd.
Mit ihrem Körper wuchs auch ihre Kraft und ihre Energie. Allerdings reichten die winzigen Insekten der Kanalisation nun nicht mehr aus, um ihren noch immer zunehmenden Hunger auch nur ansatzweise zu stillen. Anderes Futter musste her, größeres, nahrhafteres, zum Beispiel ein oder zwei Exemplare der zahlreich vorhandenen Mäuse und Ratten.
Doch diese waren ebenso schlau wie flink - und mit ihrer üblichen Jagdmethode kam die Spinne nicht weit. Nachdem sie zum wiederholten Mal versucht hatte, auf eine Maus zu springen, diese ihr jedoch jedes Mal blitzartig ausgewichen und so entkommen war, formten sich im Gehirn der Spinne plötzlich völlig neuartige Ideen.
Mit ihrem Hunger und ihrem Körper war anscheinend auch ihre Intelligenz gewachsen, und sie begann zu lernen. Sie lernte, sich zurückzuhalten, nachzudenken, ehe sie handelte, einen Plan zu entwickeln und diesen schließlich in die Tat umzusetzen ... und kurz darauf fraß die Spinne ihre erste Ratte.
*
Der Morgennebel hatte sich schon eine ganze Weile verzogen, als Sebastian das erste Mal an diesem Tag den Kopf durch die Luke des Hausbootes steckte.
Er kletterte auf das Deck, gähnte, kratzte sich am Kopf und im Schritt und betrachtete müde das Wasser.
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