Keeva McCullen 4 - Tödliche Fesseln (German Edition)
Erst nach einer ganzen Weile bemerkte er, dass etwas anders war als sonst.
Neugierig ging er zu dem Teil des Schiffes, von dem er glaubte, dass es sich um den Bug handeln könnte. Das Hausboot gehörte einem Freund - einem Straßenmusiker, der zur Zeit quer über den Kontinent ‚tourte‘ - und Sebastian hatte nicht die geringste Ahnung, ob das Ding in den letzten Jahrzehnten überhaupt einmal von seinem Ankerplatz hier im Regent‘s Canal wegbewegt worden war. Er glaubte nicht. Die Liegeplätze waren begehrt und bestimmt würden sich gleich alle möglichen anderen Bootsbesitzer wie die Geier auf einen freigewordenen Platz am Ufer stürzen. Andererseits: gab es überhaupt so etwas wie heimatlose Hausboote? Irgendwann musste doch jedes davon einmal irgendwo anlanden ...
Als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, schüttelte er verwirrt den zerzausten Kopf. Heute war er definitiv nicht in der Verfassung für derartig komplizierte Gedankengänge. Die Party gestern hatte einfach zu lange gedauert.
Er gähnte ein weiteres Mal und wandte sich dann wieder seinem ursprünglichen Problem zu: der ungewöhnlichen Verfärbung des Wassers. Mittlerweile war er am Bug – er verbot seinem Gehirn, sich erneut mit der Richtigkeit dieser Annahme auseinanderzusetzen - des Bootes angekommen und konnte den seltsamen Fleck, den er vorhin wahrgenommen hatte, genauer inspizieren.
Tatsächlich, da war etwas. An dieser Stelle ragte ein altes Abwasserrohr ein paar Zentimeter über der Wasseroberfläche aus der steinernen Mauer, die den Kanal begrenzte. Das Rohr war aus ökologischen Gründen schon seit vielen Jahren nicht mehr in Benutzung - jedenfalls nicht für die Entsorgung von Schmutzwasser. Lediglich während eines starken Unwetters floss hier ab und zu etwas Regenwasser heraus, ansonsten blieb das Rohr üblicherweise trocken.
Was jetzt jedoch in einem dünnen Rinnsal in den Kanal tröpfelte, sah ganz und gar nicht nach Regenwasser aus. Es schimmerte rötlich und bildete eine dunkle Wolke im Wasser, die bereits ein ganzes Stück in die Mitte des Kanals reichte.
Sebastian beugte sich nach vorne und versuchte, in das Rohr hineinzuschauen. Es gelang ihm nur unzureichend – das Rohr lag deutlich niedriger als die Reling des Bootes –, aber er meinte erkennen zu können, dass etwas in seinem Lauf feststeckte.
Hatte da jemand womöglich seinen Müll entsorgt? Ihn einfach in das Rohr gestopft? Manchen Menschen war das ja durchaus zuzutrauen; die schreckten vor nichts zurück und hatten nicht die geringste Achtung vor der Schönheit der unberührten Natur.
Während er sich so nach vorne über den Rand des Bootes beugte und auf die zwar stille, aber trotzdem sich ständig leicht bewegende Wasseroberfläche blickte, wurde ihm mulmig in der Magengegend und er fühlte sich schlecht. War gestern wohl doch etwas zu viel gewesen, gestand er sich ein.
Er richtete sich wieder auf und holte tief Luft. Schon besser! Eigentlich hätte er sich gerne noch etwas hingelegt, aber der Müllsack in dem alten Rohr ließ ihm keine Ruhe. Er sah sich auf dem Deck des Bootes um und fand eine lange Metallstange mit einem Haken an einem Ende. Perfekt, dachte er, und hängte sich wieder über die Reling.
Mit der einen Hand hielt er sich am Bootsrand fest und mit der anderen schob er die Metallstange vorsichtig in das Rohr hinein. Sofort stieß er auf einen nachgiebigen Widerstand. Er drehte den Haken an der Stange so lange, bis er glaubte, dass er sich in dem Abfallsack verhängt hatte, dann zog er langsam. Es klappte! Allerdings nur für wenige Sekundenbruchteile, dann löste sich der Haken wieder von dem Sack – aber Sebastian gab nicht auf. Er musste noch zweimal mit der Stange nachfassen, bis das geheimnisvolle Objekt ans Tageslicht kam und in den Kanal plumpste.
Und während dieses graue, schleimige Objekt – es handelte sich nicht um einen Müllbeutel – im Wasser langsam zerfiel und dabei den Blick freigab auf halb aufgelöste Körperteile von Mäusen, Ratten und – Gott bewahre – sogar einem Eichhörnchen, und diese wabbeligen Stücke, die den Eindruck erweckten, als hätten sie gar keine Knochen, sondern bestünden aus weichem Gummi, zeitlupenhaft langsam Stück für Stück im grünen Wasser versanken - währenddessen entleerte Sebastian geräuschvoll den Inhalt seines Magens in das stille Wasser des Regent‘s Canals...
*
Matthew Stapleton, Angestellter beim Wasserversorgungsunternehmen Thames Water, hatte sich gerade ein
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