Kehraus fuer eine Leiche
oben nach unten. Also steige ich die steilen Stiegen zu den Dachkammern hinauf und stoße die erste Tür auf. Über dem einzigen Stuhl in der spartanisch eingerichteten winzigen Stube hängt das geblümte Kittelkleid, in dem ich Pia zuerst gesehen habe. Der ramponierte Teddybär, der mich von der penibel glatt gestrichenen Bettdecke aus matten Knopfaugen ansieht, passt in diese Zelle. Keine Poster, kein Computer, keine Pferdebilder, keine Schminksachen. Pattis Zimmer sieht ähnlich aus. Ihr persönlichster Gegenstand ist ein Foto auf dem Nachttisch. Wahrscheinlich eins aus glücklicheren Tagen: Zwei kleine Mädchen stehen lachend vor dem Elefantengehege im Zoo und halten sich an den Händen. Im Elternschlafzimmer hängt über dem riesigen Doppelbett ein gewaltiges Ölbild mit einer Golgathaszene; vermutlich ein Überbleibsel aus Gudruns Erbmasse. Vor einer kleinen Marienstatue in der Ecke brennt ein ewiges Licht.
Die anderen beiden Zimmer im Obergeschoss sind offenbar unbenutzt und stehen voller Gerümpel.
Als ich die Treppe wieder hinunterkomme, höre ich ein Geräusch. Wie das Schnäuzen einer Nase. Ich spitze die Ohren. Dann ertönt ein Klagelaut. Hat sich etwa noch jemand eingeschlichen? Sich beim Zerschlagen einer Fensterscheibe verletzt? Ich ignoriere das heftige Jucken meiner Hand. Von den Pees kann keiner hier sein. Die sind ja gerade erst nach Prüm geschafft worden. Ich schleiche mich näher heran und luge durch die offene Küchentür. Und sehe, dass ein Mitglied der Familie derzeit nicht in Prüm vernommen wird.
Mit dem Rücken zu mir sitzt Pia über den Küchentisch gebeugt und weint herzzerreißend.
»Pia«, sage ich leise, um sie nicht zu erschrecken.
Sie fährt herum.
»Weg!«, schluchzt sie und springt auf. »Gehen Sie weg!«
Die scharfe Klinge des kleinen Steakmessers in ihrer rechten Hand weist auf mich. Ich trete einen Schritt zurück in den Flur und hebe die Hände.
»Ich will dir doch nichts antun«, sage ich ruhig und sehe ihr fest in die Augen.
»Ich mir schon«, weint sie. »Ich will nicht mehr leben!«
»Weil dein Steffen tot ist«, sage ich mitfühlend. »Das ist furchtbar. Es tut mir so leid.«
Sie umklammert den Griff ihres Messers.
»Haben Sie ihn denn gekannt?«, fragt sie mit Sehnsucht und Misstrauen in der Stimme.
»Nein, aber ich habe gehört, dass er ein sehr lieber und lustiger Mensch war, ganz gleich, was andere sagen mögen.«
»Das stimmt«, heult sie und lässt sich wieder auf den Küchenstuhl fallen. »Er war lustig. Und lieb. Er hat niemandem was getan. War gut zu allen Leuten, auch zu den Bösen. Er hat mich geliebt. Richtig geliebt. Er war der Einzige. Und jetzt ist er tot. Für immer.«
»Das ist das Furchtbare am Tod«, sage ich und setze mich übers Eck zu ihr.
»Er wollte mich retten«, heult sie. »Mich hier rausholen und mit mir weggehen.«
»Das war gut von ihm. Du musst hier auch raus, Pia. Aber doch nicht so .« Ich will ihre linke Hand umdrehen, aber sie zieht sie rasch weg. Mit der rechten umklammert sie den Messergriff so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.
»Was wissen Sie schon!«
»Leider sehr viel. Aber noch längst nicht alles. Erzähl mir von Steffen, Pia. Erzähl mir davon, wie ihr euch kennengelernt habt.«
Sie schüttelt den Kopf, weint weiter und sagt nichts mehr. Im Geiste haue ich mir eine runter. Ich hätte mir den letzten Satz sparen sollen. Natürlich will sie über Steffen reden, wie jeder, der einen geliebten Menschen verloren hat. Aber nach allem, was ich über sie und den Mann jetzt weiß, kann sie mir doch nicht erzählen, wie sie sich kennengelernt haben!
Ich beuge mich vor, um sie zu streicheln oder in den Arm zu nehmen, aber sie rückt weit von mir ab. Das Quietschen der Stuhlbeine auf dem glatten Steinboden geht mir durch Mark und Bein.
Ich warte schweigend ab.
Nach einer langen Weile putzt sie sich geräuschvoll die Nase, sieht mir in die Augen, hebt das Messer und erklärt mit fester Stimme: »Sie können mich nicht davon abhalten.«
»Doch, Pia, du bist so jung. Du hast das Leben noch vor dir. Es steckt voller guter Überraschungen. Willst du dir die alle entgehen lassen? Würde dein Steffen wollen, dass du dich seinetwegen umbringst?«
»Ja!«, heult sie. »Ohne ihn bin ich ganz allein.«
»Du hast deine Schwester.«
»Die ist jetzt auch weg.«
»Sie ist bei der Polizei in Prüm. Deine Eltern auch.«
»Woher wissen Sie das?«
»Mein Freund ist Polizist.«
»Ich habe keinen Freund mehr!«
Ich
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